Karl Bühler

Gutachten über die Dissertation »Anamnesen im Versorgungshaus. (Ein Beitrag zur Lebenspsychologie)« von Marie Lazarsfeld-Jahoda
Wien, am 14. Januar 1932

Im Zusammenhang einer Reihe von Arbeiten, die sich unter Charlotte Bühlers Leitung mit dem Problem der Gesetzmässigkeit im Ablauf des menschlichen Lebens befassen, hat Marie Lazarsfeld 52 Anamnesen an alten Leuten in Wiener Altersheimen gemacht. Sie beschaffte sich dieses Material sehr selbständig und geschickt. In der Einleitung, I. Hauptteil, bespricht sie die Art, in der sie Fehlerquellen zu ermitteln und auszuschalten und möglichst einwandfreie Daten zu sichern suchte; ferner die von ihr angewandte Methode. Diese war, die Leute möglichst frei und ungezwungen ihren Lebenslauf erzählen zu lassen und nur durch gelegentliche Fragen Lücken und Fehler zu klären.
II. Hauptteil: Die Materialbearbeitung beginnt mit Beispielen für Normalleben, Lebensläufe, die sich in ihrer Expansion und Restriktion eng an die biologische Lebenskurve anschliessen. Und zwar zunächst mit dem weiblichen Normalleben, dessen Expansion sich besonders eng an das Biologische anschliesst. Ein Beispiel wird analysiert, in dem der Lebenshöhepunkt mit der Vollkraft und der Zeit der Erfüllung aller weiblichen Funktionen reinlich zusammenfällt; es ist die Zeit, da sie in guter Ehe lebt, dem Haushalt selbständig vorsteht, Kinder bekommt und grosszieht. Die Berufsarbeit vorher bis zum 28. Lebensjahre hat durchaus den Charakter einer Vorbereitungszeit für die Ehe, die den eigentlichen Inhalt ihres Lebens bildet. Dieser Hauptphase setzt der Tod des Mannes in ihrem 53. Jahr ein Ende. Es folgt nun ein Leben in einem verengerten und unpersönlichen Wirkungskreis als Zimmervermieterin, bis diese Arbeit für sie zu schwer wird und sie in die Versorgung geht. Im männlichen Normalleben ist es die wirtschaftliche Expansion und Restriktion, die sich ausbreitende und dann wieder verengernde Wirksamkeit im Beruf, die parallel der biologischen Kurve verläuft. Auch hierfür werden Beispiele analysiert.
Nachdem zunächst die der Lebenskurve entsprechende expansive und restriktive Richtung der ersten und der zweiten Lebenshälfte aufgezeigt sind, geht die Betrachtung jetzt zu einer feineren Analyse über und findet eine weitere Gliederung des Gesamtlebens. Am Lebenslauf eines Kellners wird demonstriert, wie zwischen 30 und 50. die Höhepunktsphase seines Lebens voll gelingender Berufstätigkeit, glücklicher Ehe liegt, dieser vorangehend eine Zeit des Pläneschmiedens, Reisens, Stellenwechsels, wo das Leben noch nicht in definitiven Bahnen festgelegt ist; diese Uebergangsphase, die dem Leben gegenüber noch vorbereitenden Charakter hat, setzt mit Beginn der Lehrzeit, nach der ersten Phase der Kindheit, die noch vor dem Leben liegt, ein. Ebenso folgen der Höhepunktsphase zwei Restriktionsperioden. Im Leben des Kellners zunächst eine Zeit, wo er nach einem misslungenen Versuch, sich selbständig zu machen, nach Verlust seiner Ersparnisse nun 12 Jahre lang sich mit untergeordneten Stellungen begnügen muss, bis er in einer Woche sowohl diese Stellung wie seine Frau verliert und eine schwere Zeit durchmacht. Schliesslich geht er in die Versorgung und gibt den selbständigen Lebenskampf überhaupt auf – die 5. Phase dieselbe Periodisierung wieder an einem Frauenleben nachgewiesen.
Die Anamnesen geben Gelegenheit, besonders gut die 5. Phase, in der sich alle Berichterstatter ja befinden, zu studieren und Marie Lazarsfeld liefert hierzu im nächsten Abschnitt einen speziellen Beitrag. Es zeigt sich bei den Rückerinnerungen, dass jeder selbst dieser einfachen Leute sein Leben irgendwie in ein Schema gebracht hat und die Selektion des Guten und Bösen[,] des Gelungenen und Misslungenen so vornimmt, wie es seiner Grundeinstellung zu seinem eigenen Leben entspricht, also z.B. stets nur Positives oder vorwiegend Negatives an den objektiv oft gleichen Ereignissen sehend. Im ganzen besteht bei all diesen Altersanamnesen die Tendenz zur Abschwächung der Affekte, die sich in der Erinnerung offenbar stark nivelliert haben und deren Heraufbeschwörung der alte Mensch oft auch deutlich abwehrt. Die Restriktion der 5. Phase zeigt sich inhaltlich in einer ausserordentlichen Einengung des Interessenkreises, in dessen Mittelpunkt die eigene Person steht. Der 4. Abschnitt beschäftigt sich mit der Zentralisation des Frauenlebens um die persönlich-weiblichen Schicksale, des Männerlebens um die wirtschaftlich-berufliche Laufbahn.
Der III. Hauptteil befasst sich mit typologischen Problemen u[nd] zw[ar]
1.) mit den Abweichungen von der Normalkurve. Als solche kommen in Betracht eine Verlängerung der Expansionsperiode und Verkürzung der Restriktion sowie das umgekehrte [!]. Diese umgekehrte Erscheinung ist in dem vorliegenden Material häufiger. Beide Phänomene werden an Lebensläufen aufgewiesen und zwar ist der Grund der frühen Restriktion teilweise in der Ungunst der äusseren Verhältnisse, teilweise aber bei selbst relativ günstigen Verhältnissen in einem endogenen Faktor, der Triebschwäche genannt wird, zu suchen. Die Auswirkung der beiden Faktoren wird an Beispielen gezeigt.
2.) Das Normalleben des Lebenslaufs wird individuell dadurch beeinflusst, ob jemand maximale oder minimale Anforderungen an die eigene Entwicklung stellt. Auch dieses Anforderungsniveau ist nicht ohne weiteres durch die äusseren Verhältnisse sondern durch eine primäre Einstellung des Individuums zum Leben zu erklären. Es werden verschiedene Beispiele besprochen, wo auf Grund verschiedenster Ausgangsbedingungen das Anforderungsniveau bald ein maximales bald ein minimales ist.
3.) Die Verfasserin geht schliesslich noch kurz auf den von Charlotte Bühler als Lebenserfüllung bezeichneten Tatbestand ein, womit das Gelingen des Lebens gemeint ist. Der Nachweis unter diesem Gesichtspunkt gelingt der Verfasserin jedoch noch nicht. Als Anhang sind eine Reihe in dieser ersten Untersuchung noch nicht ausgeschöpfter Anamnesen beigegeben.
Die Arbeit ist in Anbetracht der Neuheit und Schwierigkeit des Problems als gut gelungen zu bezeichnen. Die Verfasserin hat mit grosser Selbständigkeit und mit Erfolg das Material beschafft und eine erste Gliederung und Uebersicht über dieses Material unter lebenspsychologischen Gesichtspunkten ist ihr gut gelungen. Die Arbeit entspricht den an eine Dissertation zu stellenden Anforderungen.
Wien, 14.1.[19]32. [Karl] Bühler

Mit der Approbation einverstanden
15/1 [19]32. R[obert] Reininger

Quelle: Archiv der Universität Wien, Wien. Abgedruckt in: Marie Jahoda. 1907–2001. Pionierin der Sozialforschung. Katalog zur Ausstellung des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich an der Universitätsbibliothek Graz vom 3. Juni bis 2. August 2002. Mit zahlreichen Erstveröffentlichungen von und über Marie Jahoda. Herausgegeben von Reinhard Müller. Graz: Universitätsbibliothek Graz 2002, S. 35–36. Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Universität Wien.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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