Johann Bendl
Bericht des Gendarmerie-Postenkommandos Gramatneusiedl an die Bezirkshauptmannschaft Mödling
Gramatneusiedl, am 19. Dezember 1931; 3 Bl., pag. 1–3.
Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz), Virtuelles Archiv »Marienthal«, Sammlung Klaus Taschwer. Beachten Sie das Copyright!
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Gramatneusiedl
Bezirk Mödling, Nied[er]-Öst[erreich]
E. Nr. 15 res.
Studierende des Psychologischen-Institutes
in Marienthal.
An die
Bezirkshauptmannschaft
in
Mödling.
Gramatneusiedl, am 19. Dezember 1931.
Seit November 1931 betreiben angeblich Studierende des Psychologischen-Institutes der Wiener Universität unter der arbeitslosen Bevölkerung von Marienthal angeblich Studien, veranstalten Preisausschreiben unter den arbeitslosen Jugendlichen unter der Devise »Wie stellen sie sich die Zukunft vor«, halten öffentliche Vorträge unter dem Titel »Erziehungsfragen der heutigen Zeit,« haben sowohl in der Volks- als auch in der Hauptschule und in der Gemeindekanzlei Gramatneusiedl Zutritt und stellten selbst an das hiesige Postenkommando das Ansinnen, Daten über die zunehmende Kriminalität im hiesigen Ueberwachungsrayone zu liefern.
So erschien am 5.11.1931 am hiesigen Posten D[okto]r Gertrude Wagner, Wien, I., Wallnerstrasse N[umme]r 8 wohnhaft und der angebliche Student Walter Wodak, Wien, II., Rembrandtstrasse Nr. 35 wohnhaft und baten um Aufschluss über die Kriminalität in Marienthal seit Stillegung des Betriebes. Sie gaben an, vom Psychologischen-Institut der Wiener Universität nach Marienthal entsendet worden zu sein, um Studien über die Auswirkung der Arbeitslosigkeit anzustellen.
Vom Postenkommando wurde dem Ansuchen nicht entsprochen und die Ersuchenden mit ihrem Begehren an die Dienstbehörde gewiesen.
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Derzeit ist in Marienthal Dr. Lotte Danzinger, 22.12.1905 in Wien geboren und zuständig, Lehrerin, Wien, IX., Alserbachstrasse Nr. 11 wohnhaft, tätig.
Zu den Vorträgen waren bisher Herren aus Wien als Vortragende erschienen. Bei den Vorträgen, die unter dem Titel »Erziehungsfragen der heutigen Zeit« abgehalten werden, wurden Ansichten geäussert, die, wie bekannt wurde, selbst bei freisinnigen, zünftigen Erziehern als »selbst für künftige Geschlechter verfrüht«, bezeichnet wurden.
Auch sonstige Aeusserungen und manches Tun der Studierenden lässt den Verdacht aufkommen, dass die Arbeiten der angeblichen Sendlinge der Wiener Universität nicht ausschliesslich dem Studium der Arbeitslosen dienen.
Dr. Lotte Danzinger rief am Samstag, den 12.12.1931 nachmittags die Telefonnummer R 23412 an. Zufällig wurden einige Redewendungen, die dabei von der Danzinger gebraucht wurden, erfahren: »Guter Boden, mit der Gendarmerie keine Schwierigkeiten.«
Wie in Erfahrung gebracht werden konnte, ist die Nummer R 23412 eine sogenannte Geheimnummer. Es konnte daher von hier aus nicht festgestellt werden, mit wem oder mit welcher Teilnehmerstelle die Danzinger damals gesprochen hat. Auch die Nummer R 43412 (Hotel »Praterstern«) wurde damals von der Danzinger aufgerufen.
Die Danzinger forderte auch einen Postboten des hiesigen Ueberwachungsrayones auf, ihr zu sagen, wer hier die Arbeiterzeitung und das Kleine Blatt aboniert [!] hätte.
Wenn schon alle diese Umstände höchstens den Verdacht einer politischen (kommunistischen) Propaganda rechtfertigen, so wäre mit Rücksicht auf die Tätigkeit der Personen schon aus sicherheitspolizeilichen und nicht zuletzt auch aus pädagogischen Gründen die Feststellung wichtig, ob die im Akte genannten Personen ihre Tätigkeit behördlich
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autorisiert ausüben und ob es der Wahrheit entspricht, dass es sich um offizielle Abgesandte des »Psychologischen-Institutes« der Wiener Universität handelt.
Der Bürgermeister von Gramatneusiedl, Josef Bilkovsky, gab über Befragen an, dass er amtlich von der Tätigkeit dieser Personen keine Verständigung erhalten habe, doch wurde er vom Eintrffen [!] derselben vom Landeshauptmann-Stellvertreter Hellmer[1] brieflich avisiert.
Erfahren wurde ferner, dass sowohl die Leitung der Hauptschule, als auch die der Volksschule von Gramatneusiedl, vom Bezirksschulrate die Weisung erhalten hätte [!], die Untersuchung des Psychologischen-Institutes zu unterstützen und den mit der Untersuchung betrauten Personen fachliche Hilfe zu gewähren.
Johann Bendl
Revierinspektor
Bezirkshauptmannschaft Mödling
am 24. Dez[ember] 1931
Zahl XI-1118 Beilg.
[1] Das ist Oskar Helmer (geb. Gata, Ungarn [Gattendorf, Burgenland] 1887, gest. Wien 1963): Schriftsetzer und sozialdemokratischer Politiker; 1920 bis 1921 Mitglied der Provisorischen Burgenländischen Landesregierung, 1921 bis 1934 Mitglied der Niederösterreichischen Landesregierung, seit 1927 als Stellvertretender Landeshauptmann. 1945 bis 1959 Abgeordneter zum Nationalrat, 1959 Mitglied des Bundesrats; 1945 Unterstaatssekretär im Staatsamt für Inneres, 1945 bis 1959 Bundesminister für Inneres; 1927 bis 1934 Landesparteisekretär und 1945 bis 1957 Landesobmann der niederösterreichischen Sozialdemokratie, 1945 bis 1959 Stellvertretender Bundesparteiobmann der »Sozialistischen Partei Österreichs«. Er war übrigens auch Präsident der »Österreichischen Länderbank«, bei welcher Gertrude Wagner (1907–1992) später arbeitete. Anm. R.M.