L.-W. [d.i. Ludwig Wagner]
Alle Räder, alle Spindeln stehen still. Ein Tag im arbeitslosen Gramatneusiedl. – Die Einkaufstasche des Arbeitslosen
in: Das Kleine Blatt (Wien), 4. Jg., Nr. 48 (18. Februar 1930), S. 5.
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Alle Räder, alle Spindeln stehen still.
Ein Tag im arbeitslosen Gramatneusiedl. – Die Einkaufstasche des Arbeitslosen.
(Von unserem L.-W.–Sonderberichterstatter.)
Gramatneusiedl, 17. Februar.
Werktag ist’s im Kalender, aber das Werk liegt träge hinter vereisten Mauern. Siebenmal schlägt die Turmglocke an, aber keine Sirene schrillt durch Mariental [!]. Grau sind die Fensterfronten der Arbeitersiedlung, trüb ist der Morgen, gleichmütig plätschert der Auslaufbrunnen in zwei dünnen Wassersträhnen auf die gefrorene Erde nieder und bildet immer neue Eiskrusten. Eine Arbeiterfrau, Mitte der Vierzig, im gemusterten Kattunrock und geblümten Kopftuch, schiebt ihre Blechkanne unter den Auslauf. Während der Wasserspiegel in der Kanne langsam steigt, hat sie Zeit genug, ihre Umgebung zu mustern. Die Werkwohnungen mit der Holzveranda und den Wäschestricken, was sollten ihr die noch sagen? Oder die fahlgelben Hochbauten aus Stein, Glas und Zement, die die stillgelegten Maschinen beherbergen? Bis zum Überdruß kennt sie hier jeden Stein. So wandern ihre Augen über schneeverwehte Feldwege hinüber nach Ebergassing.[1] Dort drüben, auf den Fabrikschloten ganz draußen am Horizont, wird eben das Wahrzeichen der Arbeit, die Fahne aus Rauch und Ruß gehißt. Maschinen knirschen und rollen dort drüben, Dampf zischt und Motore singen ihre rasende Melodie. Und Hände dürfen sich regen…
So ist heute alles auf den Kopf gestellt, sogar der Kalender: In Ebergassing ist’s Werktag, in Mariental [!] – seit sieben Monaten – »Feiertag«. Darum ist es an diesem Wochentagmorgen in der Arbeitersiedlung so still. Nur der Auslaufbrunnen fließt und plätschert ins Leere. Und mit ihm verrinnen die Stunden, Tage und Wochen in der Arbeitslosenkolonie. Leer und ereignislos.
Die Kultur wird vertagt.
Die einzigen, die in Mariental [!] ihrem Beruf nachgehen können, sind – wenn man von den paar Geschäftsleuten absieht – die Schulkinder. Jetzt trippeln sie durch den Schnee hinein nach Gramatneusiedl. In die Schule. Fast alle müssen am Marktplatz vorbei. Dort breitet sich hinter den Verkaufsbuden ein riesiges Feld: der Bauplatz für die neue Hauptschule. In der Gemeindekanzlei könnt ihr das Protokoll und die Baupläne besichtigen. Die neue Schule sollte der Stolz der Industriegemeinde werden. »Unsere Kinder müssen möglichst gut ausgebildet werden für den Lebenskampf«, heißt es im Protokoll. Darum hat die Gemeinde jahrelang Schilling auf Schilling gelegt.
Sechzehn geräumige, helle, freundliche Schulzimmer mit Tischen und Sesseln, ein großer Zeichensaal, ein Physiksaal, ein Turnsaal and eine Badeanlage, sollten in dem Schulneubau untergebracht werden. An eine Schulzahnklinik haben die Gemeindeväter gedacht. Eine Lernküche sollte eingerichtet werden. Moderne, hygienische Kleiderablagen sollten eingebaut werden. Also ein Schulpalast, wie er vorbildlich in Pottendorf geschaffen wurde. Auch Pottendorf ist ein Textilarbeiterort, aber die Pottendorfer Spinnerei arbeitet.[2] Die Gramatneusiedler Schule aber bleibt bis auf weiteres Zukunftsmusik. Statt der geplanten sechzehn, gibt es daher nur neun Volksschulklassen Und keine geeigneten Räume für Zeichnen und Turnen. Höhere Schulbildung, moderne Schulräume – eine Gemeinde, die von der Arbeitslosenunterstützung lebt, kann sich diesen Luxus nicht leisten!
Aus besseren Tagen…
Gerade dem Bauplatz gegenüber liegen zwei schmucke Baracken. Die rot gestrichene gehört den erwachsenen Arbeitern, die grüne ihren Kindern. Mit Stolz erzählen die Marienthaler, daß sie sich dieses Heim selbst erbaut haben. An langen Sommerabenden, in einer Urlaubswoche, griffen die Weber zu Hammer und Kelle. Hundert Millionen hat die Einrichtung des Arbeiterheimes gekostet. Der große Saal und das Sitzungszimmer. Am meisten aber freuen sie sich über die Bibliothek: 1300 Bände! Es ist das einzige, was hier noch an die besseren Zeiten der Konjunktur erinnert.
Heute sieht es mit dem Vereinsleben traurig aus. Die Gesangsektion ist sistiert, die Turner können keine Beiträge mehr einheben. Die Fußballer auch nicht. Ja, die Kultur ist für Gramatneusiedl vertagt worden. Das spüren sogar die Kleinsten: Der Montessori-Kindergarten hat seine gastlichen Pforten geschlossen, weil die Eltern nicht einmal den Wochenbeitrag von einem Schilling aufbringen können. Neben dem kalten Ofen trauert ein verlassenes Schaukelpferd.
Die Einkaufstasche des Arbeitslosen.
Was sollen die vier Wände in der Arbeitersiedlung verbergen. Nirgends lebt man so nackt wie in einer Gemeinde von Arbeitslosen. Wer kennt nicht das Einkommen der Nachbarn? Frauen bringen alle zwei Wochen 28 Schilling nach Hause, Männer ungefähr 35 Schilling. Aber der Staat versteht zu sparen. Auf die Frauen hat ers besonders scharf; wo es nur irgendwie geht, werden sie ausgesteuert. 28 oder 35 Schilling! Ungefähr 110 Schilling für eine fünfköpfige Familie im Monat. Ihr müßt nicht erst in die Kochtöpfe der Marientaler [!] Arbeiter gucken.
Fragt nur die Geschäftsleute!
Nicht einmal Sauerkraut.
Eine Gemischtwarenhändlerin zeigt uns ihren Tagesverdienst. Zwei Schilling und zwei Halbschilling. Und dabei ist es bereits Mittag vorüber. Wurst geht überhaupt nicht mehr, am ehesten verkauft sie noch: Brot, Semmeln, ein paar Eier. Die Strümpfe liegen seit Weihnachten auf der Stellage. Was sie an einem Tag einnimmt? So zehn bis fünfzehn Schilling. Dabei hat sie im Monat dreißig Schilling Pacht zu zahlen und die Lieferanten schicken ihr täglich Briefe ins Haus: »Trotz wiederholter Mahnungen…« Und wie zur Illustration tritt gerade ein Kutscher ein. Ob sie ein neues Faßl Sauerkraut braucht? Nein, nein, das alte Faßl ist fast noch unberührt. Also nicht einmal Sauerkraut!
Der am meisten begehrte Artikel: Schweineblut.
Sollen wir überhaupt zum Zuckerbäcker hineinschauen? Wie das Geschäft geht? Zum Beispiel in Faschingskrapfen. Nun alle Bälle und Kränzchen sind abgesagt. Die Ware bleibt liegen. Genug!
Der Fleischhauer kann uns mit einer Zahl dienen: Er verkauft jetzt in der Woche um 1000 Kilogramm Fleisch weniger als im Vorjahr. »Von den Marientalern [!] könnt’ ich net leben, wenn net von auswärts Leut’ einkaufen möchten…« Also, was wird am meisten begehrt? Vor allen [!] Grammeln,[3] da kosten 10 Dekagramm 10 Groschen. Dann Blunzen,[4] das Kilogramm um 1 Schilling 20 Groschen. Dann Schwarteln[5] und Schweinsköpfe. Den größten Rummel aber gibt es zweifellos, wenn ein Schwein geschlachtet wird. Dann reißen sich die Frauen um ein Häferl Blut. Auch die Blunzensuppen (das Wasser, in dem die Blunzen gekocht werden) ist heute ein gesuchter Artikel…
Schmalhans in Mariental [!].
Das gleiche Bild beim Schuster: Auch er hat zwei Arbeiter abbauen müssen und lebt fast nur mehr von Flickarbeit. Der Zigarettenverkäufer hat sich von »Sport« und »Drama« auf »Film« umstellen müssen, sein Umsatz ist dadurch auf ein Drittel gesunken. Die Strümpfe bleiben liegen, nur die Stoppwolle [!] geht halbwegs. Man fühlt es in Mariental [!], daß mit der Fabrik das wirtschaftliche und kulturelle Leben einer ganzen Gemeinde stillgelegt wurde. Die Marientaler [!] haben freilich das Hoffen noch nicht verlernt. War das Marientaler [!] Bettuch nicht gesucht, ist nicht eine geschulte Arbeiterschaft in Gramatneusiedl zu Hause? Wartet nicht ein vorzüglicher Maschinenpark auf den Geldgeber, der dieses große, schlafende Werk wieder in Gang bringt?
»Die Holländer sollen sich für Mariental [!] interessieren.« Ich wette hundert gegen eins, daß die Börse sich nicht annähernd so stürmisch für Marientaler [!] Aktienkäufe interessiert, wie diese Arbeitslosen, die von 35 Schilling zwei Wochen lang leben müssen. Auf eine Formel gebracht: Was für die einen Hausse oder Baisse heißt, bedeutet für die anderen: Sein oder Nichtsein…
Gramatneusiedl. Schnellzüge donnern und flimmern vorüber. Kommen aus Belgrad, Athen, Budapest. Oder aus Paris, Genf und Wien. Bringt keiner die Nachricht, auf die Gramatneusiedl fiebert? Die Botschaft, daß es wieder Arbeit gibt…
[1] Im Nachbarort Ebergassing gab es ebenfalls eine – 1813 gegründete – Textilfabrik, in der in den 1930er-Jahren manche Marienthaler einen Arbeitsplatz gefunden haben. Anm. R.M.
[2] In dem etwa 17 Kilometer südwestlich von Gramatneusiedl liegenden Pottendorf wurde bereits 1801 eine Baumwollspinnerei gegründet, die bald darauf ihren Betrieb aufnahm. Die Fabrik wurde erst 1976 stillgelegt. Anm. R.M.
[3] Grammeln: österreichisch für Grieben. Anm. R.M.
[4] Blunze(n): österreichisch für Blutwurst, eine aus Blut, Fleisch und Semmel- oder Brotwürfeln hergestellte Wurstart. Anm. R.M.
[5] Schwartl: österreichisch für Schwarte. Anm. R.M.