Marie Jahoda über die »Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« und die »Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der österreichischen wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«

Wien, 1931 bis 1937

Er [d.i. Paul Lazarsfeld] hat die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle gegründet, in der wir alle gearbeitet haben, und als er später nach Amerika ging, wurde ich Direktor der Forschungsstelle, bis ich verhaftet worden bin. Diese Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle war eine ganz einzigartige und ganz wienerische Erfindung. Es war weniger ein Forschungsinstitut als ein Lebens- stil. Wir haben nie genug Geld gehabt. Der Paul [Lazarsfeld] hat diese wunderbare Erfindung des »market research« gemacht, damit haben wir Untersuchungen für die Industrie gemacht. Und das Geld, das wir dafür eingenommen haben, haben wir dafür verwendet, sozialpsychologische Untersuchungen durchzuführen.
Die bekannteste Studie ist natürlich Marienthal. Für die haben wir eine kleine Geldsumme von der Rockefeller Foundation bekommen, aber das war nicht genug. Wissen Sie, die Forschungsstelle hat davon existiert, daß eine große Anzahl der jungen Intellektuellen arbeitslos war. Es war ein Freundeskreis, kein kommerzielles Unternehmen. Die Buchhaltung war schrecklich; wir hatten immer das Geld für eine Untersuchung schon lange ausgegeben, bevor die Untersuchung beendet war. Dann haben wir einen neuen Kontrakt gemacht, und das Geld für die alte Arbeit verwendet usw. Es war großartig und ganz unsystematisch in dieser Beziehung, mehr ein Ausdruck unserer Interessen an den Sozialwissenschaften und an der Politik.
Abgesehen von Marienthal: Ich erinnere mich, daß wir eine Studie gemacht haben, für die niemand bezahlt hat, über den Lebensstil der Wiener Bettler. Während des abessinischen Kriegs haben wir eine Studie gemacht, in der wir der Bevölkerung eine Karte von Afrika gegeben haben, und sie gebeten, Abessinien1 hineinzuzeichnen, mit dem Resultat, daß drei Viertel von Afrika Abessinien war. Das hatte interessante Implikationen für das, was das öffentliche Wissen ist – wie es schwankt und von den aktuellen Ereignissen abhängig ist. In dieser Art haben wir eine ganze Reihe von wirklich interessanten Studien gemacht, dabei immer um jeden Groschen gekämpft, nie genug Geld, nie eine ordentliche Buchführung.
[Mathias Greffrath:] Sie finanzierten sich mit Marktforschung. Das war damals eine neue Geschichte...
Es war eine ganz neue Erfindung. Aber begonnen hat die Forschungsstelle mit einer anderen Idee. Das Radio war damals noch relativ neu in Österreich. Und es war entweder der Hans Zeisel oder der Paul [Lazarsfeld] – ich kann mich nicht mehr genau erinnern –, der aus der generellen Diskussion über das, was Radio bedeutet, ob die Leute es hören oder nicht hören usw., die Idee konzipiert hat, ein Radio-Barometer zu machen, das auf einer Bevölkerungsumfrage begründet war. Heute ist das natürlich selbstverständlich, jede Radio- und Television-Station in der Welt macht das. Aber damals war es total neu, und Radio Wien hat dafür bezahlt. Das war die erste Market-Resarch-Studie, die wir übernommen haben. Für uns war damals die Idee der Methode – Umfrage und Fragebogen – so faszinierend, daß wir sofort überlegt haben, auf welche anderen Probleme es anwendbar wäre, und natürlich auch, wie man das möglicherweise finanzieren könnte. Wir haben dann eine ganze Reihe von Markt-Untersuchungen gemacht: über den Gebrauch von Wäschereien, über Herrenanzüge, über Familienausgaben für Essen, über Kaffee, über Tee, immer mit einem Hintergedanken: wieviel Geld kriegen wir für das, was wir noch lieber machen wollten?
[Mathias Greffrath:] Das hat Ihnen nicht Skrupel bereitet? Sie haben nicht, wie es bei uns in den sechziger Jahren üblich war, über »Wissenschaft im Dienste des Kapitals« diskutiert?
Nein. Wir waren zugegebenermaßen darauf aus, mit schlechten Mitteln das Richtige zu tun. Es gab damals für Sozialforschung im nichtkommerziellen Sinne keine Finanzierung, und die neuen Techniken der Befragung, die Analyse der Daten waren in sich selbst so interessant, da auch viele politisch wichtige Erkenntnisse aus dem Konsumentenverhalten herausgelesen werden konnten. Was immer das Thema war, das man in einer solchen Umfrage berührte: es hatte Implikationen für politisches Denken. Zum Beispiel die Unterscheidung des »proletarischen Konsumenten« gegenüber dem middle class-Konsumenten kam aus der market research. – Nein, ich glaube nicht, daß wir ein schlechtes Gewissen hatten. Wir waren auch, wissen Sie, immerzu in Geldnot. Viele von uns hatten kein anderes Einkommen. Das heißt, auch das Gefühl, daß man Menschen jetzt hilft und nicht in der Zukunft, war sehr entscheidend. Wir haben unter unseren Interviewern Leute mit Doktoraten gehabt in Jus oder Nationalökonomie – es hat ja damals noch keine offizielle Soziologie gegeben an der Universität in Wien2 –, die teilnahmen an den Arbeiten und so ein Einkommen gehabt haben. Das war in der Zeit, die ökonomisch schrecklich war in Österreich, besonders für die jungen Leute, so eine Rechtfertigung, daß uns keine Zeit für ein schlechtes Gewissen geblieben ist.

Mathias Greffrath: »Ich habe die Welt nicht verändert.« Gespräch mit Marie Jahoda, in: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Greffrath. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979 (= das neue buch. 123.), S. 103–144, hier S. 118–120.

1 Abessinien: ältere Bezeichnung für die heutigen Staaten Äthiopien und Eritrea. – Abessinischer Krieg: die Besetzung Äthiopiens durch das faschistische Italien 1936 bis 1941. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Der erste Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Wien – und übrigens auch in Österreich – wurde 1950 eingerichtet. Allerdings besetzte Othmar Spann (Altmannsdorf [zu Wien] 1878 – Mariasdorf, Burgenland 1950) von 1919 bis 1939 einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien, dessen Beschreibung er in ein Ordinariat für »Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre« ändern ließ; hier wurde jedoch nur Sozialphilosophie gelehrt, keine Soziologie im modernen Sinn und schon gar keine empirische. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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