Norbert Swoboda
Absturz in die Apathie. Der Mythos Marienthal: Vor 75 Jahren wurde jene Studie über die Arbeitslosigkeit verfasst, die bis heute als beispielgebend gilt. Eine neue Dokumentation blickt hinter die Kulissen
in: Kleine Zeitung (Graz) vom 11. Mai 2008, S. 66–67.
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Norbert Swoboda
Absturz in die Apathie
STUDIEN-FALL
Die Studie von Marienthal entstand 1933, wurde aber erst ab 1960 weltweit bekannt.
Reinhard Müller hat jetzt die Hintergründe recherchiert.
In Marienthal ist ein Museum geplant. Nähere Infos unter agso.uni-graz.at/archive/marienthal.
Der Mythos Marienthal: Vor 75 Jahren wurde jene Studie über die Arbeitslosigkeit verfasst, die bis heute als beispielgebend gilt. Eine neue Dokumentation blickt hinter die Kulissen.
Was passiert mit Menschen, wenn sie arbeitslos sind? Was geschieht mit den Familien? Wird eine ausgesteuerte Bevölkerung radikal und greift zu den Waffen?
Es waren hochaktuelle Fragen, vor genau 75 Jahren, inmitten der Wirtschaftsdepression der 1930er-Jahre, die zu einer Studie führten, die zu einer der berühmtesten der so genannten empirischen Sozialforschung wurde: »Die Arbeitslosen von Marienthal« untersuchte nach der Schließung einer Fabrik die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit in verschiedensten Facetten. Wegen der Kombination der wissenschaftlichen Methoden und der Herangehensweise ans Thema gilt sie heute noch als Meilenstein. Neben quantitativen Daten (z[um] B[eispiel] Statistiken) waren besonders die qualitativen Daten wie Befragungen und teilnehmende Beobachtung bahnbrechend.
Mittlerweile ist Marienthal ein Mythos, einer, der in vielen sozialwissenschaftlichen Studienrichtungen noch gelehrt wird.
Reinhard Müller vom Archiv für Geschichte der Soziologie in Österreich, hat hinter die Kulissen geblickt. Dieser Tage erschien seine Dokumentation »Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie«.
Alle drei Aspekte sind spannend: Das angebliche Dorf Marienthal war keines. Marienthal, so poetisch der Name auch klingt,
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der Gemeinde Gramatneusiedl südöstlich von Wien.
Die Studie dürfte durch Otto Bauer, Parteivoritzender [!] der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, angeregt worden sein. Mit den Ergebnissen hatte er wenig Freude: Die Arbeit unter der Leitung von Paul Lazarsfeld zeigte, dass Arbeitslose für die Revolution kaum mobilisierbar sind und versank daraufhin in der Versenkung. Erst in den 1960er-Jahren wurde sie berühmt. Bemerkenswert: der hohe Anteil von Autorinnen der Studie und das soziale Engagement der Autoren für die notleidende Bevölkerung.
Selbst Gehen wird zum Schlendern.
Dieser »soziographische Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit«, wie der Untertitel der Marienthal-Studie hieß, zeigte klar, dass Arbeitslosigkeit letztlich zur Verzweiflung, ja sogar Apathie ganzer Bevölkerungsgruppen führt. Eine Auslese der wichtigsten Ergebnisse:
Lesen. Statt sich in der Freizeit mit Büchern weiterzubilden, sank die Zahl der Entlehnungen pro Mitglied von 3,23 (1929) auf 1,6 (1931). Die Abonnentenzahlen der Zeitungen gingen um 60 Prozent zurück.
Zeit. Die Geschwindigkeiten reduziert [!] sich, vor allem die unbeschäftigten Männer schlenderten durch die Gassen. Tagesprotokolle zeigten, dass als Fixpunkte des Lebens nur die Essens- und Schlafenszeiten bestehen blieben. Nichtstun wird zur Hauptbeschäftigung (vormittags 35 Prozent der Zeit, nachmittags 41 Prozent).
Anzeigen. Sogar in den Gerichtsakten wurden die Studienautoren fündig. Die Zahl der Anzeigen von Marienthalern gegen andere Marienthaler stieg von lediglich neun im Jahr 1928/29 auf 28 im Jahr 1930/31, davon waren 21 Anzeigen unberechtigt.
Essenslisten. Es zeigte sich etwa, dass mehlhaltige Speisen andere ersetzen, billigeres Roggenmehl wurde statt Weizenmehl verwendet. Der Butterverbrauch sank auf ein Drittel, der Kaffeeverbrauch um ein Drittel.
Resignation. In der Studie werden vier Kategorien der »Haltung« der Menschen beschrieben, die u[nter] a[nderem] mit dem durchschnittlichen Einkommen verglichen werden. Es ergibt sich ein klarer Zusammenhang dieser vier Gruppen: Ungebrochene Menschen erhalten im Schnitt 34 Schilling Einkommen, resignierte 30, verzweifelte 25 und apathische 19.
Reinhard Müller mit seiner Dokumentation »Marienthal«. Studienverlag, 423 Seiten