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Kindheit und Jugend 1907–1926 Marie Jahoda wuchs im 3. Bezirk, in der Seidlgasse 22/III/11, in einer sozial-liberalen Familie der Wiener Mittelschicht auf, in welcher der jüdischen Religion keine besondere Bedeutung zukam. Der sozial engagierte Vater hatte einen Leitstern, der auch den Kindern vermittelt wurde: der Erfinder, Philosoph und pazifistische Sozialreformer Josef Popper-Lynkeus (d.i. Josef Popper; 1838–1921), der unter anderem an Stelle der allgemeinen Wehrpflicht eine allgemeine Nährpflicht zur Lösung der sozialen Frage propagierte. Marie Jahodas Onkel Georg Jahoda steuerte den zweiten Familienheiligen bei: den Schriftsteller und Sprachkritiker Karl Kraus (1874–1936), dem die »Verlotterung der Sprache« Ausdruck für Korruption und Unwahrhaftigkeit der Gesellschaft waren.1913/14 bis 1917/18 besuchte Marie Jahoda die Volksschule in Wien. In dieser Zeit erwachte auch ihr politisches Bewusstsein, insbesondere anlässlich des Prozesses gegen Friedrich Adler (1879–1960) im Jahr 1917: Der Sohn des legendären Gründers der österreichischen Sozialdemokratie hatte im Oktober 1916 aus Protest gegen die österreichische Kriegspolitik den Ministerpräsidenten Karl Grafen von Stürgkh (1859–1916) erschossen: »Fritz Adler’s deed made me consciously into a socialist.«1 Als Ende ihrer Kindheit betrachtete Marie Jahoda den Sommer 1919: Damals wurde sie wie viele andere Wiener Hungerkinder für einige Wochen nach Dänemark verschickt. In den Schuljahren 1918/19 bis 1925/26 besuchte Marie Jahoda das fortschrittliche »Mädchen-Realgymnasium des Vereines für realgymnasialen Mädchenunterricht« in Wien 8., Albertgasse 38: »meine Eltern (...) haben schon damals verstanden, daß Frauen genauso wie ihre Söhne eine höhere Erziehung brauchen und verdienen.«2 Hier legte sie am 1. Juli 1926 die Matura ab; an Wahlfächern entschied sich Jahoda für Mathematik und Philosophische Propädeutik, in ihrer schriftlichen Hausarbeit »Die Negation. Eine sprachlogische Untersuchung« legte sie Positionen des österreichischen Sprachphilosophen Fritz Mauthner (1849–1923) dar. In der Gymnasialzeit begann Marie Jahoda erste Texte zu schreiben: Gedichte, etwa über ihre Mitschülerin und Jugendliebe Madeleine, über ihre Cousine Emma Jahoda oder ihre Mutter Betty Jahoda.
1 Marie
Jahoda Albu: Reconstructions. [Keymer,
Sussex: Published by the author] 1996, S. 17.
2 Steffanie
Engler und Brigitte Hasenjürgen: Biographisches Interview mit
Marie Jahoda, in Marie Jahoda: »Ich habe die Welt nicht
verändert«. Frankfurt/Main–New
York: Campus Verlag 1997, S. 101–169, hier S. 116.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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