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Beginnendes politisches Engagement 1924–1926 Schon früh kam Marie Jahoda mit der fortschrittlichen Jugendbewegung in Berührung. Vermutlich im Sommer 1919 verbrachte sie ihre Ferien in einer Sommerkolonie (Ferienlager) der aufgeschlossenen Schulreformerin und Pionierin der Mädchenbildung Eugenie Schwarzwald (1872–1940) in Küb auf dem Semmering. Hier begegnete sie übrigens erstmals Paul Felix Lazarsfeld (1901–1976), der als Betreuer fungierte: »I remember him (...) as the organiser of a weekly popularity survey. We children were asked whom of the staff we liked best and the statistical results were published on the notice board.«1 Über Vermittlung ihres Bruders Eduard Jahoda (1903–1980) – »who was my mental and moral guide all through my young years«2 – kam Marie Jahoda auch zu den Pfadfinderinnen, wo sie um 1923 Gruppenführerin wurde. Nach etwa einem Jahr zog sie sich zurück, weil sie »resented the bourgeois attitude of the central scout organisation as much as the separation of the sexes.«3 Allerdings war Jahoda dadurch mit sozialistischen Jugendgruppen in Berührung gekommen und trat dem »Sozialistischen Wanderbund« bei, eine sozialdemokratische Jugendorganisation, die 1927 in den »Roten Falken« aufging. Während ihrer gesamten Österreichzeit blieben übrigens Wandern, insbesondere Bergwandern, und Schifahren beliebte Freizeitbeschäftigungen Marie Jahodas. Ihr Bruder Eduard war es auch, der Marie Jahoda 1924 in den Kreis der zur Jahreswende 1923/24 gegründeten Wiener »Vereinigung sozialistischer Mittelschüler« brachte, deren Initiatoren sich großteils aus dem »Sozialistischen Wanderbund« rekrutierten. Ein sichtbares Zeichen für ihr neu entstehendes Weltbild war Jahodas Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien am 8. Juli 1925. Im Schuljahr 1925/26 – es war das Maturajahr – wurde Jahoda »Obmann« der »Vereinigung sozialistischer Mittelschüler«, 1926 Sekretärin des österreichweiten »Bundes Sozialistischer Mittelschüler Österreichs«. Unzählige Freundschaften Jahodas fanden in diesen beiden Organisationen ihren Ursprung. Am 1. Mai 1926 hielt sie auf der Festversammlung der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs« (SDAP), der sie seit 1925 angehörte, als Vertreterin der sozialdemokratischen Mittelschüler ihre erste Rede (über die damals vieldiskutierte Schulreform) vor einer großen Öffentlichkeit. Bereits im Dezember 1925 publizierte Jahoda ihre erste gedruckte Arbeit »Der Zentralausschuß«, danach im Sommer 1926 »Koedukation«, beide in dem von ihr mitherausgegebenen Vereinsorgan »Der Schulkampf« (Wien). Und im Sommer 1926 leitete sie selbst eine Sommerkolonie der »Vereinigung sozialistischer Mittelschüler« im oberösterreichischen Ebensee. Prägend wurde für Marie Jahoda ihre Begegnung mit dem Vordenker und Parteiführer der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer (1882–1938), der ihr wesentliche Grundgedanken des Austromarxismus nahe brachte und dem sie später freundschaftlich verbunden war: »He cured me once and for all of any communist leanings.«4 Es war besonders das sozialdemokratisch geprägte, das »Rote Wien«, das Marie Jahoda bewunderte: »Was die Wiener Gemeindeverwaltung damals getan hat, ist – glaube ich – eine kulturelle Leistung, die im 20. Jahrhundert keine Parallele hat. Da waren nicht nur die Hausbauten, die damals revolutionär waren. Englische Sozialisten sind gekommen, um zu sehen, was die Gemeinde gemacht hat. Da waren kulturelle Organisationen: die Naturfreunde, die Bildungszentrale, die Arbeiter-Symphoniekonzerte. Das war wirklich eine Massenkultur auf einem Niveau, das es heute nirgendwo wirklich gibt. Und das trotz der tragischen ökonomischen Situation [nach dem Ersten Weltkrieg; R.M.].«5 1 Marie Jahoda Albu: Reconstructions. [Keymer, Sussex: Published by the author] 1996, S. 35. 2 Marie Jahoda Albu: Reconstructions. [Keymer, Sussex: Published by the author] 1996, S. 32. 3 Marie Jahoda Albu: Reconstructions. [Keymer, Sussex: Published by the author] 1996, S. 33. 4 Marie Jahoda Albu: Reconstructions. [Keymer, Sussex: Published by the author] 1996, S. 33. 5 Robert Knight: Interview mit Marie Jahoda am 28. August 1985. Quelle: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien. © Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
POLITISCHES ENGAGEMENT Eugenie Schwarzwald Pfadfinderinnen Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler Rede zum 1. Mai 1926 Sommerkolonie Otto Bauer Austromarxismus |