Marienthaler Kalendergeschichten. Geschrieben für die Ausstellung Marie Jahoda (1907–2001) – Pionierin der Sozialforschung – an der Universitätsbibliothek Graz, 3. Juni bis 2. August 2002. Eine Ausstellung des »Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich«
Graz: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich 2002, 13 Bl.
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Mechthild Curtius
Marienthaler Kalendergeschichten
Geschrieben für die Ausstellung
Marie Jahoda (1907–2001) – Pionierin der Sozialforschung
an der Universitätsbibliothek Graz
3. Juni bis 2. August 2002
Eine Ausstellung des »Archivs für die Geschichte der
Soziologie in Österreich«
Graz, im Juni 2002
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Marienthaler Kalendergeschichten
Von Mechthild Curtius
I. Mädchen aus Marienthal
Der Todesko-Park bei Mondlicht kann die Illusionen meiner Großmutter eher beschwören als das öde Brennnesselfeld am Tag. Im Park bei der Nacht sind die Nesseln so hoch wie die Ziersträucher, die völlig verholzt hier und da noch eine Blüte treiben, die ist auch krumm und krank. Doch die Nacht verschönert, Mondschein und Straßenlaternen umrunden den Rasen unter Bäumen mit Licht, machen die zerbrochenen Glashausschreiben zum blausilbernen See. Bei trübem Wetter bin ich mit dem Omnibus aus Wien angekommen, es regnet Bindfäden ins Paradies-Gärtlein der Familien-Fabel. Vielleicht bin ich auch nur dem Namen aufgesessen; Marienthal erinnert die meisten an irgendein Kloster gleichen Namens, die einen an die Ruhe französischer Zisterzienser-Kreuzgänge, die anderen an italienische Renaissance-Bauten oder böhmische Barock-Paläste in und um duftende Blütenparks und Kräuterapotheken weiser Mönche und Nonnen. Die Klosterstille ist jedoch der Gegensatz zur lautlosen Verlassenheit der toten Fabriksiedlung Marienthal im verödeten Steinfeld unweit von Wien.
Die Grabkreuze hier sind weder Denkmäler noch aus kostbarem Stein, doch auch unser Name und die Jahreszahlen 1866 und 1872 sind einem Ausgewanderten wie mir Symbole der Alten Welt, und den Vorurteilen überm Großen Teich ist Europa nun einmal ›antique‹. ›Nun ist es das letzte Grab; endlich schaut mal einer nach‹, murmelt der Mann mit der Schaufel und hört gar nicht mehr auf zu reden: Höchste Zeit sei es im Jahr 1865 für den eigenen Marienthaler Gottesacker gewesen, drei Cholera-Epidemien in einem Viertel Jahrhundert, sauber seien die Bäche nicht gewesen, die junge Manufakturen anzogen und für alles herhalten mussten; von Hygiene wusste man nirgendwo viel. Mangel-Ernährung bei Kindern bewirkte Rachitis, Cholera gleich dreimal in wenigen Jahren; erst im Nachhinein kann ich mir die vielen Grabkreuze mit den Zahlen hinterm Kreuz erklären: 1866, 1872. Und die Zahl 1849 drüben im großen Dorf Gramatneusiedl, wo die Marienthaler erst hinkamen. Gerade die Kinder starben öfter als die zähen Fliegen; da hatten Totengräber und der Pfarrer andere Sorgen als Namenschreiben und Taufen. Auch auf dem katholischen Friedhof sind manche Kinder-Grabstätten namenlos, auf dem dörflichen Grab nur ein Holzkreuz mit meinem Familienamen. Der Totengräber schaut vom Schaufeln auf und ich frag ihn, sagt, ›kumman S’ mit‹ und leitet mich in eine Kapelle voller Gerümpel, deutet stumm durch Spinnenweben und Moder, aufgetürmt in der Ecke fünf Särge, Holztruhen, schlicht, eine sehr kleine. Der braune Fichtenholzsarg ohne Zier und Spruch ist kurz, angemessen für ein Neugeborenes, aber zu breit, da steht nicht mehr als der Großeltern Name, ungetauft waren tote Kinderln kaum Mensch; keinen Bibelspruch wert, sogar namenlos sind sie gestorben. Keine Vornamen, harte Holzlettern bezeugen meine Familie und doch als erstes die geneti-
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sche Neigung zu Doppelgeburten seit vielen hundert Jahren. ›Hier liegen Zwey Zwillinge . sie sein Toechter . Ruhen in Gott . wurden gebohren Den 1. Mertz 1759 und sturben einige Stunden nachdem sie gebohren wurden.‹
Zwillinge, grad so wie du. – Aber was, ich bin ein einzeln geborenes Mädel. Weder Mädel noch allein. Da bin ich hinter eine grausige Geschichte gekommen und ich kann das alles nicht glauben. Ich bin als Studentin aus Canada nach Wien hergekommen zum Forschen und wusste erst nach und nach, auch nach der Suche nach meiner eigenen vergangenen Vorzeit. Dramatischer als ich gedacht, hat diese Suche nach Identität für mich geendet. Wo wird schon aus einer Studentin Paula der Student Paul und als ob das nicht reiche, setzt das Geschick noch eins drauf: wieder retour, in Wien wird Paula wiederum Paul. Die Wirklichkeit stellt jede wüsteste Räuber-Pistole in den Schatten. Wenn man das erfindet, heißt es, muss der Dichter so übertreiben: Paula ist als Buben-Zwilling geboren, nun fasse ich Mut, ich war Boy, später Girl, bin wieder Mann, wenn die Operation auch schwer genug ist. Mein Gespür hat sich niemals geirrt, maskulin war und ist meine Natur. Dazu das komplizierte Studium der Gender-Soziologie, dafür bin ich inzwischen Experte. Das nennt man in der Tat aus der Not eine Tugend machen. Es lebe der Galgen-Humor.
Eigentlich will ich mich nur in die Jahoda-Studien unseres Professors Lazarsfeld junior (sein Vater kommt aus Austria) vertiefen und sie lebendiger machen, das viele Papier ist mir immer zu staubig gewesen, vielleicht sind das die ländlichen Ahnen, wer dran glaubt. So kehre ich an den Tatort zurück, wie andere die Schauplätze der Maler und Dichter als Ursprung aus erster Hand mehr lieben als Sekundärliteratur.
Wie hart auch die Zeiten im Fabriksdorf Marienthal wirklich waren, meine Großmutter hat rückblickend davon geschwärmt wie von einem Paradies. Hat einfach ihre in der Neuen Welt trotz allen Wohlstands heimwehkranke Mutter kopiert, die in der großen Arbeitslosigkeit einer berühmten Doktorin richtig zu Papier diktiert hatte: ›Früher war es ja herrlich in Marienthal, schon die Fabrik war eine Abwechslung, Zerstreuung. Im Sommer sa ma spaziern gangen im Tal. Unsre Kinder ham schöne Sachen kriagt, Kleidln aus Wien und Spielzeug. Vor die Feiertäg sa ma mit di Kinder nach Wien mit der Raaber Bahn, bis Station Gramatneusiedl über’s Feld glaufen, im Prater Riesenrad gfahrn und Ringelspiel und Zuckerln kauft. Auf d’Nacht mit ’m Ferdl auf’n Tanzboden im Bauerndorf bei der Kirchn mit’m zwiebligen Turm. Jetzt hab i Zeit, aber was soll’s. Bin wie zerschlagen, Arm und Bein wie aus Blei, der Tag rinnt dahin, wofür und warum. ’s is ma, als wann alles immer langsamer wurd. Mir alle mit, nix regt si im öden Tal, ka Lüfterl, die Schlamperei im toten Dorf legt si auf’s Gmiat wie der graue Belag auf die Trauben, den sie drübn im fruchtbaren Land, wo der Heurige herkummt, den Mehltau heißen, weil er so pulvrig ausschaut. Die grünen und blauen Beeren wie in Staub gewälzt. Und so giftig auch.‹
Marienthal klingt nun mal vielen wie eine Kloster-Kreuzgang-Idylle im lieblichen Auwald – klare Luft, Blumenduft, Vogelsang, Glockenklang, Wasserrauschen und Westwind. Landleben eben. Mittendrin glückliche Kühe und Kinder. Mein Liebster kommt aus einem Marienthal, halb Polen, halb
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Lausitz – wo es bäurisch schön war, aber auch da gibt es ein Dorf Oberwaltersdorf so wie hier, und die Mädchen gehen in die Spinnerei und Damast-Weberei grad wie hier, und in dem Wappen ein Weberschiffchen wie hier – die Neiße wird der Buntbach geheißen. Gefärbt wird mit Waid, später mit Gift: Montag blau, Dienstag grün, Mittwoch gelb – die Wochentage bestimmen die Oberlausitzer zwischen Zittau und Görlitz danach. Singen auch manchmal – drohend klingt das mit den grollend rollenden RRRs:
›Lasst uns nun nach Westen ziehn.
An Rhein, Ruhr und Pleiße;
denn bei Oberwalterschdurf
rinnen in die Neiße
Farbenlaug und Scheiße.‹
Gesund sind die Kinder in Arbeiterorten nie gewesen, Tuberkulose, Rachitis und Rückgratverkrümmung, aber sie tun im Nachhinein so, als sei alles gut gewesen zur Blütezeit der Textil-Fabrik. Was Fabrikarbeit mit den Blumen zu schaffen hat. Die Luft wurde wieder ländlich, als sie die Maschinensäle Stück für Stück schlossen, keine Lunge hat mehr Staub geatmet. Nur langsam verstoben die feinen Fasern der Garne, jahrelang haben sie noch in den wenigen Bäumen gehangen. Schwerarbeit für die Männer ist das gewesen mit Tragen und Maschinen-Bestücken, Spinnereien und Weberei-Betriebe sind nicht ›gsund‹. Ohrenbetäubend tosen die Maschinen, und wenn sie stille stehen, fehlt erst was, und dann atmest du auf. Das soll die Nerven zerrütten, sagen die in der Stadt; was sollte das uns heißen. Weit genug waren die Eltern hergekommen für Arbeit und ein Dach überm Kopf, noch dazu sauber und neu. Und so hell. Gesund ist es auch nicht, wenn alles wie tot liegt und die Armut bald ans Hungertuch bringt. Rückerinnernd bleibt den nur auf den zynischen ersten lieblosen Blick Fortgejagten der Park im Gedächtnis, Mittelpunkt im platten öden Land des ›steinigen Feldes‹, in dem die Bauern auch nichts zu lachen hatten. Ihre Häuser sind keine stolzen Höfe, eher karge Keuschen, aber manchmal in Blumengärten ganz bunt. In schnurgeraden Reihen stehen die Marienthaler Arbeiterhäuser, und doch sind sie für die aus dem Elend der Großstadt-Kellerlöcher und der verödeten Landbergwerke gekommenen böhmischen, mährischen und deutschen Arbeiter die ersten geräumigen neuen trockenen lichten Behausungen und sicheres Brot. Spinnerei und Weberei, als der vormals Wiener Fabrikant Hermann Todesko 1830 mitten im dicksten Industriejahrhundert einfach seine Flachsspinnereien in die Leere gesetzt hat, die flache Ebene war dem Transport günstig, das Flüsschen Fischa-Dagnitz fror mit dem eigentümlich warmen Wasser auch im harten Winter nicht zu und gab Energie und vor und neben der Raab-Bahn Lasttransport bis zum nächsten Ort. Wenn man unter dem Flügelengel den bärtigen Steinkopf am Denkmal besieht, das im Park steht und den Herrn Wohlthaeter preist, so fällt Soziologen heute ein, wem alles gehört hat; bisschen wie beim Herrn Kannitverstan muss es gewesen sein, von dem wir beim Johann Peter Hebel in der Schule gelesen haben. Die bekritzelten Pappeinbände der Lesebücher stehen im kleinen Museum. Denn die Marienthaler Arbeiterkinder konnten lesen, schon die Urgroßmutter. Das war anders als in den Städten, dieser Fabrikherr war ein väterlicher Patriarch, was PATER ja heißt, und hat sogar Kinderbewahranstalt und Schule bauen lassen, täglich zwei Stunden Unterricht, das war
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damals viel. Nach dem Krieg ist das eben alles ›den Boch obigangen‹, keineswegs wörtlich zu nehmen, denn dieses Gewässer hatte dann auch keine Turbinen mehr zu speisen; keine Laken zu bleichen; bis Februar 1930 wurden Spinnerei, Weberei, Bleiche geschlossen.
Meine Vorfahren sind, wie so viele Europäer im vorigen und vorvorigen Jahrhundert, nach Amerika ausgewandert, weiter nach Canada. Da fanden sie eine neue Heimat und leidlichen Wohlstand. Die neue Gegend, dort wo sich zwischen Bergen die Ebene breitet, erinnert sie an ihr Österreich, das mit der Zeit in ihren Rückwärtsträumen immer glücklicher wurde; Spinnen sind sie von Haus aus gewöhnt. Ihre Felder in der New World sind kilometerweit und üppig, erst die Sorgen der letzten Jahre lassen auch wieder die Steinfelder der Erinnerungen ärmer erscheinen: Genau so steinig und dornenvoll wie sie sind sie uns aber erst neuerdings vorgekommen, und das hat einen gänzlich anderen Grund. Seitdem überlegen sie auch, dass in unserer Familie immer das Verhängnis geherrscht habe, und obendrein doppelt. Von Natur, nicht metaphorisch zu nehmen, wortwörtlich, noch mehr: mit Haut und Haaren, beileibe.
Wenn ich auch auf dem heimischen – was sage ich da – Marienthaler Friedhof ihre genetischen Ursprünge ausgegraben habe – das bitte nicht wörtlich nehmen, denn der Zwillingsholzsarg war schon freigelegt. Genetik in der Medizin und Gender-Sociology sind meine Spezialfächer. Es ist eine andere eigene Geschichte. So hebe ich neu an:
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II. Zwillings-Falle: Peter and Paul/a Bonvilain, canadische Zwillinge
Macht seinem Namen Ehre, der Peter, Vilain heißt hässlich, bäuerisch, plump – der Bub sei hässlich. Jedenfalls liefen die Freundinnen seiner Schwester Paula vor ihm fort. Und Paula die Freunde zu. Sie nutzte sie nicht nur aus, war auch sonst mit allen Wassern gewaschen, mit trüben. Aus Buben und Männern machte sie sich nichts. Was ist ein Mädchen, was ist ein Knabe? Was ist eine Frau, was ist ein Mann? Mann und Frau sind ein vorübergehender Irrtum, hat der Experte gehöhnt. Der Schein trügt. Der Taufschein auch. Eineiige Zwillinge sind eigentlich zum Verwechseln ähnlich. Beide in diesem Falle Buben. Sie waren 22 Monate alt. Knapp zwei Jahre. Da erfolgte die rituelle Beschneidung. Peter blieb ungeschoren, unbeschnitten, Paul nicht nur um die eine Silbe ärmer, sondern um das wichtige Anhängsel, das weibliche oder männliche Lebensgeschichte bedingt. Es hatte der Beschneider allzu gründlich zugeschnitten, zugeschlagen, mit dem Elektrokauter, einem gängigen Schneideinstrument zum Blutgefäße Veröden, zweimal umsonst, ungeduldig hatte der Arzt beim dritten Mal die Stromstärke auf ein Maximum erhöht; es gab ein Zischen, einen Rauchkringel, in dem das Zeugungsglied buchstäblich aufging, jedenfalls verkohlte und binnen Tagen daheim vor dem Augen der verzweifelten Eltern abbrach. Stück für Stück holte es die Mutter aus den Windeln.
Nie mehr will ich seitdem sagen, dass Mann und Frau ein vorübergehender Irrtum seien. Mich hat das Versehen beinahe das Leben gekostet. Die Eltern waren dem Rat der Experten ausgeliefert. Professor Hinz sagte das, Doktor Kunz jenes, Biophysiker Diamond lehrte, dass die Identität sich auch dadurch entscheide. Entschneide, wie richtig ist der Versprecher.
Nackt wie Gott mich schuf. Adam. Eva. Gender by clothing, Geschlecht ist machbar, Nachbar – man ziehe dem Kind Kleider an, damit es Mädchen werden kann. Sexualforscher Professor Money, nomen omen, ehrgeizig auf Weltruhm aus, ließ sich die einmalige Gelegenheit nicht entgehen, das eineiige Zwillingspaar, einen männlich gebliebenen und einen zum Mädel verwandelten Zwilling zu Versuchskaninchen zu machen. Die beiden beim Heranwachsen beobachtend zu testen. Peter blieb Peter, Igelhaar und Jeans, Paul wurde Paula, lange Locken, Blümchenkleid, verkleidet, verschnitten.
So war der rundliche Bruder eigentlich nicht hässlicher als der die das andere Zwillings-Kind Vilain, sondern massiger; Paula dafür war anders, irgendwie komisch, unheimlich. Das sollte er / sie / es lebenslang bleiben, wem man einmal die Identität abgeschnitten hat, der kann sich nur mit Not und unter Qual wieder anflicken. Ich bin ein Flickwerk. Aber ich lebe.
Als Mann, wie Gott mich schuf. Wieder. In Wien neugeboren. Auferstanden.
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Diese Mischung aus Studium und ›Identitätssuche‹ ist ausschlaggebend gewesen, auch die Begegnung mit Professor Falckenstein. Vielleicht, gewiss hat der Einblick in die Geschichte der Ahnen und Ahninnen meine Qualen relativiert. Zwillinge sind im von Natur und durch die Textil-Industrie staubigen Steinfeld in unserer Familie seit Generationen vorgekommen, damals hatten Fabrikarbeiter im Wiener Umfeld aber andere Sorgen als genetischen Schnickschnack. Da waren zwei kleine Helfer mit geschickten Kinderfingern gefragt, als die Spinnerei florierte, da waren zwei Fresser ein Übel in der Arbeitslosigkeit nach ihrer Pleite.
Alles ist relativ, hat der etwas grüblerische Großvater in Canada geunkt und an der kalten Pfeife gesaugt, dass es dieses hässliche röhrende Geräusch gab. Das geht bis in meine Alpträume, wenn er mir heimlich das Spielzeug meines Bruders zusteckt. Ich will die Eisenbahn meines Bruders, reiße der Porzellanpuppe mit den Schlafaugen den Kopf ab. Werfe sie fort, mit einem unverhältnismäßig wilden Hass gegen so hilfloses Zeug. Peter war mit seinem Mondgesicht über dem plumpen Rumpf angeblich hässlich, ich spargeldünn, weil ich das Essen heimlich aus mir herausbrach. Wir sahen uns trotzdem gespenstisch ähnlich, den Spiegel hab ich zertrümmert, dem Bruder in die feisten Backen gezwickt, alle sagten, wie kann so ein zartes Girl so brutal sein, oder auch, wie kommt so ein beautiful child zu so einem struppigen Zwillingsbruder. Aber ich war auf ihn neidisch, real Boy Peter. Was für ein schönes Mädchen ist Paula. Dabei ein Wildfang. Und zu schlau für eine Frau. Lernt trotzdem nicht immer gut, sitzt gedrückt und starrt ins Leere, irgendwas ist verkehrt, sie reagiert verstört, als sie mit Vierzehn im Chor singen muss, und keiner weiß, warum sie explodiert, als ihre Rüschenbluse gelobt wird, reißt sie ab, steht mit nackter Brust vor der Klasse und keine Spur von Busen.
Keiner hat mich so in weißglühende Wut versetzen können wie der linkische Bruder, die anderen bedauerten ihn. Er hat mich angehimmelt und scheu gemieden, wollte gar in diesem Fall zurückstehen. Liebesfall. Falle erste große Liebe. Alles wäre nicht aus dem Ruder gelaufen, hätten sich die komischen Zwillinge nicht in das gleiche Mädchen verliebt. Verliebt, richtig, und wie. In die wilde Eliza, nächste Schulbusstation und immer der gleiche Weg bis in die Schule. Ich bin nicht richtig, noch viel verkehrter als alle denken, jetzt liebe ich auch noch ein Mädchen. Und als ich Eliza mit dem dämlichen Brian, der auf Elvis macht, im dunklen Park treffe, stoße ich ihn weg. Fort, fort, weg von ihr, schupse nur; dass der Ungeschickte so hart aufschlagen musste, hab ich nicht gewollt. Zu schlau für eine Frau – und zu rau. Mein Zwilling Peter war immerhin ruhig.
Wer wen beneidet hat? Er mich? Wusste ich nicht. Ich ihn. Ich hörte nur immer. Bruder. Bruder. Boy. Boy. Man. Mann. Ein ganzer Mann wollte ich sein? Penisneid? Kalter Kaffee sind alle diese Phrasen vom Psycho-Boulevard. Erst als es zu spät war, hab ich in seinen Tagebüchern gelesen, dass er ebenso neidisch auf mich war. Immer sei so ein Geschiss um die zarte kranke Schwester gemacht worden, er ganz vergessen, in die Ecke gestellt, immer wieder sind die Eltern mit Paula in die Großstadt gefahren, wie hätte er sich mal nach Toronto gewünscht. Irgendwas wurde da mit ihr gemacht, was denn nur, da haben sie die Schwester auf schön
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getrimmt, denn sonst müsste ich es auch sein, schön sein, handsome, attractive, Zwillinge sind gleich. Aber vorher war sie immer so komisch. Und ruhiger nachher. Irgendwas haben sie mit Paula in irgendeiner Klinik gemacht. Pillen fressen musste sie tagaus und tagein.
Ahnungsvoller Engel, du stummer plumper Bruder. Nicht auf schön, aber auf mädchenhaft haben mich die Doktors getrimmt, Mutter ließ mich herumlaufen mit langen Locken um das Gesicht, Mädchenwimpern, wie hab ich das gehasst. Auf Mädchen, die Spritzen sind nur die Folgen der Operationen gewesen, und das nur, weil ein Doktor gepatzt hat und mir bei der Beschneidung das Zumpferl abschnitt. Ein Witz, wenn das nicht so fürchterlich wäre in den Folgen. Machen wir draus einfach ein Mädel, little Girl. Aber die Natur lässt sich nicht betrügen. Meine nicht.
Ich bin als Studentin nach Wien hergekommen zum Forschen und wusste erst nach und nach, auch nach der Suche nach meiner eigenen Vorzeit. Vor allem, und dramatischer als ich gedacht, hat diese Suche nach dem richtigen Ich für mich geendet, denn die Täterin bin ich. Was tun, wenn eine als erwachsene Frau erfährt, dass sie als Kind ihren Rivalen fast umgebracht hat. Es stimmt nicht. Noch nie ist mir mörderisch zumute gewesen. Es stimmt gar nichts. Denn eine Frau, ein Mädchen, das bin ich niemals gewesen. Was soll noch einstürzen, bin ich nicht so gut wie tot? Wo wird schon aus einer Studentin Paula der Student Paul – und als ob das nicht reichte, setzt das Geschick noch eins drauf: Paula war Paul, ist als Jungens-Zwilling geboren, nun fasse ich Mut, ich war Boy, später Girl, bin wieder Mann, wenn die Operation auch schwer genug ist. Mein Gespür hat sich niemals geirrt, maskulin war und ist meine Natur. Dazu das komplizierte Studium der Gender-Soziologie, dafür bin ich inzwischen Experte. Das nennt man in der Tat aus der Not eine Tugend machen. Es lebe der Galgen-Humor.
Eigentlich wollte ich, wie gesagt, mich nur in die berühmte Jahoda-Studie unseres Professors Lazarsfeld junior (in den Fußstapfen seines Vaters) vertiefen und sie lebendiger machen, bin auf seinen und meinen Spuren in die Vergangenheit getrabt, geflogen erst über den Großen Teich. Habe die öden Straßen von Marienthal gefunden, immerhin Wind und Hagel und wirbelndes Bachwasser. Das viele Papier der Wissenschaftler ist mir immer zu staubig gewesen, vielleicht sind das die ländlichen Ahnen, wer das glaubt, die Legende vom Denker. So kehre ich an den Tatort zurück, wie andere die Schauplätze der Maler und Dichter als Ursprung aus erster Hand mehr lieben als Sekundärliteratur.
Meine Archivstudien beinahe vor Ort in Wien und in Graz haben mir vieles erklärt: das Toleranzpatent Josephs II. vom 2. Jänner 1782 habe ich mir kopiert. Jüdischen Händlern ist erlaubt worden, ›In einem Markt, einer Landstadt oder allenfalls auf einem bis hieher noch unbekannten (öden) Grunde eine Fabrik errichten oder sonst ein nützliches Gewerb einführen zu wollen‹.
Rosenzweig und Goldblum haben die von der Posamenten-Manufaktur und von der Papiermühle geheißen. Ihre Erleichterer unter den Kaisern, ihre Zuflucht-Geber unter den Fürsten haben die Exilierten, die Refugiés in
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ihren Werken verewigt: Theresienmühle und Karls-Kammgarnproduktion sind produktive Denkmäler. ›Der Prominente Todesco aus Wien hatte 1830 die Landesfabrikbefugnis erhalten zur k.k. priv. Marienthaler Baumwollgespinst und Wollwarenmanufakturfabrik Hermann Todesco.‹
›Die Zeit und Stunde die sind da –
wir ziehen nach Amerika!‹
Haben viele Europäer sehnsüchtig wie den Kanon vom Gelobten Land gesungen. In USA und Canada trafen im nächsten Jahrhundert unsere Familienzweige zusammen: Die Bonvilains sind findige Hugenotten gewesen, Nachfahren der Erfinder des Rundstrumpf-Wirkstuhls, aus Südfrankreich nach Hessen gekommen, wo ihnen Landgraf Carl Zuflucht gab – wieder vertrieben, in die New World – so haben sich die Gejagten aus aller Welt immer wieder irgendwo zusammengefunden. Da sind sich Alte und Neue Welt gleich, und gar nicht unbedingt ›brave new world‹. Umsonst war der Tod, den Außenseitern und Minderheiten wurde nichts geschenkt, besonders tüchtige Handwerker, Händler und Manufakteure, auch Wissenschaftler mussten sie sein.
Hätte alles nicht sein müssen. Sage ich, Paul. Naheliegend für eine Paula. Aber nun spreche ich ihn nicht amerikanisch Poal aus, sondern deutsch Pa–ul. Diesen Namen werde ich für meine neue Existenz als neuer Mann artikulieren, wie im Marienthaler Archiv gefunden; denn die Ururahnen-Zwillinge häuften sich in den Familien dort in Österreich und hießen öfters einmal Paul und Paula.
Als Paula schlief ich ein, als Paul werde ich wach. Mein kostbares Präsent – ›zehntausend Schilling hat das gekostet‹ strahlt Business Man Peter –, breitet er linkisch auf dem Boden aus. Peter ist aus Canada extra zu mir gekommen! Steht vor mir und feixt verlegen: ›The native country of our parents! Europe. Alte Welt. It is Alte Heimat.‹ Die das ganze Terrain füllende Relief-Landkarte von Austria ist es, knirschend breitet Peter die flimmernde bunte Plastik-Heimat aus, bei Klagenfurt klemmt das sperrige Zeug in die Höhe, bei Graz bricht das entzwei.
Hätten wir mehr nachgedacht, besser erkundet… aber hinterher ist jedermann schlauer, hättest du – hätten wir… der letzte Konjunktiv führt zu einer eigenen Geschichte:
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III. Mörder-Hain
Omas Lieblingsspaziergang: Spurensuche mit Beatrix und Reinhard. Erst immer stur an der Fischa lang, dann durch den Feldweg nach Gramatneusiedl und rasten im Wäldchen, falls man die spillerigen Bäume so nennen kann. Oma hat an Gewitterabenden die Gruselgeschichte erzählen müssen, bis wir unter die Decke krochen vor Schreck. Wenn mich am Namen Marienthal die Klosterstille anzieht, so am Mörder-Hain das Gruslige.
Ein Mädchen radelt die Landstraße lang, schwirrende Speichen, fliegende Haare wehen im Fahrtwind, sind der einzige lebende Glanz im Sonnenlicht, hellen die Öde der platten Landschaft nicht wesentlich auf, ohne Weinstöcke, ohne Sonnenblumenfelder, ohne Hügel. Die grauen Häuser, kilometerweit auseinander, sind Steinbaracken, einmal links, einmal rechts, ihre Sockel wachsen unmittelbar aus dem Staub, in Kopfhöhe geschlossene Fensterläden, selten eine offene Tür, keine Vorgärten, um die Höfe rosten Traktoren, nisten Hühner in Autos mit hängenden Türen, zwischen zwei wilden Blumenranken steht ein Käfig, hinter dem Maschendraht wuselt ein Iltis, sein Schaben ist das fröhlichste Geräusch, sprühendster Lebensfunke sind seine Augen und die funkeln aus Furcht. Kein Hund bellt, hier ist nicht einmal der Hund verfroren, und wenn alle Stunden einmal etwas vorbei tost, ist es ein Ferntransporter, wie eine Eisenbahn lang, die bedrohlich großen doppelten Hinterreifen sieht man am längsten. In das ferne Verhallen des Fahrtlärms raschelt ein Windhauch, der die Blätter eines Wäldchens bewegt, das im ebenen Land auffällt. Ein schweifender Blick fällt auf den staubigen Boden. Hingeworfenes Fahrrad, zertretenes Fasergras, roter Turnschuh, weißer Stoff-Fetzen, Mädchenslip, zweifellos. Kahle Felder, Strünke, menschenleer, nein, von hinten ein schlappriger Stulphut, Strolchenjacke und O-Beine. Vogelscheuche im Feld, nein, die Figur bewegt sich, also ein Mann.
Zwei andere drehende Räder, zwei schlanke Beine, nackt bis zum Fahrradsattel hoch, über kurzen Hosen und blauer Bluse ein rundliches Mädchengesicht, unter dem Mittelscheitel gewölbte Stirn und darunter suchende Augen. Das kindliche Bubikopfmädchen senkt plötzlich beide Beine von den Tretern und stoppt das Fahrrad in der halbrunden Schneise, hat sich mit der Freundin verabredet. Engelshaarblond wie ihre Freundin sei das englisch sprechende Mädchen vor drei Jahren auch gewesen. Soviel versteht sie, errät sie. Murder, mehr versteht Mary nicht, als sie sich Mühe gibt, nach ihrer verschwundenen Schwester Paula zu fragen. Erst den Mann, der sich als Detective ausgibt, der zwischen den Büschen herumstreicht, unglaubwürdig, mehr als verdächtig.
Das nächste Dorf, kilometerweit fort, wieder tritt Mary zäh in die Pedale, auf der Suche nach der Gendarmerie. Das Nest Rabenau heißt mit Recht nach den krächzenden Raben, besteht aus fünf Steinbaracken, in einer hat der Zimmermann ein Loch gelassen, durch diese Tür hinkt ein Mann, dass die Perlenfäden klirren, sie und der grüne Busch vor der Tür, die Aschenbecher auf drei runden Tischen weisen das Haus als Buschenschänke aus, an den zweiten Tisch setzt sich die abgehetzte Mary, am Nebentisch hockt eine Frau im blauen Dirndl vor einem Glas. Der verdäch-
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tige Mann, angeblich aus Wien, und der Wirt, sie sprechen ganz schnell, Mary hört nur Mord. Aber sie wollen ihr gar nichts übersetzen. So eine wie sie, so eine langbeinige langhaarige Fremde sei vor drei Jahren verschwunden. Drüben auf dem Friedhof liege sie.
Die Gegend im Steinfeld sei fade, ehe sie aus aufgekauften Brachflächen in die Industriebaracken übergehe. Der Mord hier sei der einzige weit und breit gewesen, in einer ereignislosen Umgebung. Die meisten jüngeren Mädchen und Männer sind fortgegangen, die Alten bestellen das Feld rings um die unnütz gewordenen Höfe, die keiner mehr erben will. Öde Existenz kann Mordgedanken ausbrüten. Ja, einen angeborenen Herzfehler habe die Obduktion nachgewiesen. Eigenartig bleibe, dass sich nie irgendwelche Verwandte gemeldet hätten. Die zweite Ausländerin sei wahrscheinlich auf der Suche nach der Schwester gewesen; ihre Ähnlichkeit wie die von Zwillingen. Wie sich die Gesichter und die Zeichen gleichen, und dass die wenigen Vorbeifahrenden am Wäldchen Rast machten, hat nichts zu sagen, oder nur einen Grund: Es gebe sonst nichts in der öden Gegend, das sei entlang der Landstraße die einzige Möglichkeit, Schatten zu finden. Und die Lichtung das einzige Liebesnest weit und breit.
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Mechthild Curtius
geborene Mechthild Elisabeth Wittig; Kinder: Brigitta und Boris Curtius
lebt und arbeitet mit dem Maler Olaf Hauke in Frankfurt am Main
aufgewachsen in Marienthal bei Görlitz (heute Zgorzelec, Polen), seit 1946 in Jöllenbeck (heute zu Bielefeld)
seit dem 16. Lebensjahr Werkschülerin und Werkstudentin mit Arbeiten in Fabriken, Büros, Bar und an der Universitäts-Bibliothek Marburg
seit 1960 Studium der Germanistik, Ethnosoziologie und Kunstgeschichte an der Universität Marburg; 1971 Dr. phil. (Germanistik). Dissertation: Kritik der Verdinglichung in Canettis Roman »Die Blendung«. Eine sozialpsychologische Literaturanalyse
seit 1972 Wissenschaftliche Assistentin an der Gesamthochschule Siegen
seit 1982 Privatdozentin, habilitiert für Neuere deutsche Literaturwissenschaft; Habilitationsschrift: Erotische Utopien bei Thomas Mann
seit 1975 wohnhaft in Frankfurt am Main, seit 1982 freiberuflich als Autorin tätig, seit 1984 auch Gestalterin zahlreicher Hörfunksendungen und Fernsehfilme (Text und Regie)
Auszeichnungen, unter anderem Georg-Christoph-Lichtenbergpreis für Literatur (1989); gemeinsam mit Olaf Hauke Drehbuchpreis des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen (1988), Main-Kinzig-Kulturpreis (1996), Writer in Residence der Stadt Graz (2001). Zur Zeit mit dem Ehemann Olaf Hauke in Český Krumlov zum Moldau-Stipendium
lebt heute in Frankfurt am Main mit dem Maler Olaf Hauke, mit dem gemeinsam sie auch Bücher und Ausstellungen macht
© »Marienthaler Kalendergeschichten« by Mechthild Curtius, Frankfurt am Main, Germany
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AGSÖ
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