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Chronik des Barackenlagers Mitterndorf
1915
In Arbeit!
Mai 1915
Am Abend des 31. Mai 1915, einem
Montag, treffen die
ersten sogenannten Flüchtlinge aus dem Trentino in Mitterndorf ein: etwa 1.400, nach
anderer Quelle etwa 2.000. Sie
werden zunächst im leerstehenden Gebäude der ehemaligen Fabrik von
»Philipp Haas & Söhne«,
Lagerstraße 16, untergebracht. Viele kommen aus dem Dorf
Borgo Sacco
(heute zur Gemeinde Rovereto; deutsch: Sach, Gemeinde Rovreit), dessen
Bürgermeister Giuseppe Graziola ebenso mitkommt wie der Pfarrer des
Dorfs, Luigi Brugnolli (1855–1923). Die aus dem italienisch-österreichischen
Kriegsgebiet Deportierten bleiben jedoch nur wenige Tage in Mitterndorf,
von wo sie in Gruppen von 40 bis 60 Personen in andere Lager
gebracht
werden. Verwaltet wird das zunächst für 2.000 Personen gedachte Lager
Mitterndorf, gleich wie jenes im nahegelegenen Pottendorf-Landegg
(Niederösterreich),
bis Juli 1915 vom Barackenlager Bruck an der Leitha (Niederösterreich)
aus. (
14. November 1914 und
1. August 1915)

Juni 1915
Die Verpflegung der Menschen im Barackenlager
Mitterndorf wird im Juni 1915 von der »Verpflegsgesellschaft des k. k.
Barackenlagers in Gmünd« übernommen, welches neben Mitterndorf auch die
Lager in Gmünd (Niederösterreich) selbst, in Steinklamm (heute zu
Rabenstein an der Pielach, Niederösterreich) und Reisenberg
(Niederösterreich) durchführt. (
4. Dezember 1914 und
September 1915)

Juni 1915
Am 6. Juni 1915 findet in Mitterndorf die
alljährliche Fronleichnamsprozession statt, an der auch Pfarrer
Luigi Brugnolli
(1855–1923) teilnimmt, der die Legerseelsorge leitet. Auf
Wunsch der Lagerleitung
wird die Prozession auch ins Barackenlager Mitterndorf
geführt.

Juni 1915
Der für das Barackenlager Mitterndorf
zuständige Landes-Sanitätsinspektor Regierungsrat Max Winter meldet für
den 15. Juni 1915, dass im Lager 2.300 Menschen leben.

Juni 1915
Im Juni 1915 werden im Barackenlager
Mitterndorf der Bau einer Kontumazbaracke (Quarantänebaracke)
fertiggestellt und die Adaptierung eines Magazingebäudes zur
Unterbringung von rund 800 Personen abgeschlossen.

Juli 1915
Am 12. Juli 1915 wird in Wien das
»Hilfskomitee für die Flüchtlinge aus dem Süden« (Comitato di soccorso
per i profughi meridionali) gegründet. Dessen Präsident ist der
Präsident des Obersten Rechnungshofes und ehemalige Ministerpräsident
Max(imilian) Vladimir (1877–1898: Ritter von, 1898–1919: Freiherr von)
Beck (Währing [heute zu Wien] 1854 –Wien 1843), das Zentralbüro leitet
der Statthaltereirat Alois (Luigi) Lasciac (Gorica 1858 – Triest [heute
Trieste] 1939) in Triest. Es werden mehrere Zweigkomitees für die großen
Barackenlager in Bruck an der Leitha, Gmünd, Mitterndorf, Pottendorf und
Steinklamm in Niederösterreich, in Wagna bei Leibnitz in der Steiermark,
in Braunau in Oberösterreich und Deutsch-Brod in Böhmen (heute Havlíčkův
Brod, Tschechien) gegründet. (
Quelle
&
Quelle) Zu den bekanntesten
Delegierten des Hilfskomitees gehört der christlich-demokratische
Politiker Alcide De Gasperi (d. i. Alcide Degasperi; Tesin, Tirol [heute
Pieve Tesino, Italien] 1881 – Borgo Valsugana 1954), später auch
italienischer Ministerpräsident.

Juli 1915
Im Juli 1915 wird im Barackenlager
Mitterndorf mit dem Bau von Baracken begonnen. In diesem Lager I werden
bis Ende August 1914 lediglich 48 Baracken errichtet und zumindest
teilweise fertiggestellt; später werden weitere 48 Flüchtlingswohnbaracken
errichtet werden. Dazu kommen Latrinen
und später acht Küchen, sogenannte Sektionsküchen. (
September 1915) In den zuletzt 96 Flüchtlingswohnbaracken (»lange
Baracken«) und im Gebäude der
ehemaligen Fabrik von
»Philipp Haas & Söhne« in
Mitterndorf, Lagerstraße 16, sollen 16.000 Personen untergebracht werden.
Außerdem beginnt man im Juli 1915 mit dem Bau von Verwaltungs- und
Infrastruktureinrichtungen: Verwaltungs-, Spital- und Schulbaracken.

August 1915
Das Barackenlager Mitterndorf erhält mit
1. August 1915 eine eigenständige, zivile Verwaltung. (
31. Mai 1915) Lediglich der
Ausbau des Lagers sowie andere bauliche und technische Angelegenheiten
verbleiben in der Kompetenz der Lagerverwaltung des
Barackenlagers Bruck an
der Leitha (Niederösterreich). Aufgrund dieser teilweisen Autonomie wird
das
Barackenlager Mitterndorf mit
entsprechendem Personal und einer eigenen Geldverrechnung ausgestattet.
Leiter des Lagers wird der ehemalige Konzipient der
Bezirkshauptmannschaft Oberhollabrunn (heute Hollabrunn),
Niederösterreich, und nunmehrige Statthaltereikonzipist Viktor Imhof
(bis 1919: Ritter von Geißlinghof),
sein Stellvertreter seit November 1915 der Statthalterei-Ingenieur Friedrich Schmidtkunz.
(
November 1915,
Juli
1917
und Mai
1918)
Diese unterstehen der Niederösterreichischen Statthalterei, diese
wiederum dem k. u. k. Kriegsministerium. Dem Vorstand des
Lagers und seinem Stellvertreter sind spätestens seit Dezember 1915 je
drei Oberinspektoren und Lagerinspektoren unterstellt. Das Lager selbst
wird in Sektoren eingeteilt, denen jeweils ein Sektorenleiter vorsteht.

August 1915
Das in Reisenberg bereits bestehende Lager wird
seit 1. August 1915 als eine Dependance vom
Barackenlager Mitterndorf mitverwaltet. Hier sind bis zu ihrer
Repatriierung 1917 polnische Flüchtlinge aus Westgalizien untergebracht, danach jüdische Evakuierte aus Wolhynien ‹Волинь›, die bereits
seit zwei Jahren in Niederösterreich leben und in der Industrie tätig
sind.

August 1915
Nach Angaben der Bezirkshauptmannschaft
Mödling leben am 1. August 1915 im Barackenlager
Mitterndorf 1.958 Menschen, davon 1.949 sogenannte Italiener und
neun sogenannte Slovenen.

August 1915
Am 22. August 1915
verliest der Gendarmerie-Postenkommandant von Vermiglio
(deutsch:
Ulzbach), dass die im Dorf verbliebenen rund 1.200 Bewohner binnen
48 Stunden den Ort zu verlassen hätten und jede Person nur ein
Gepäckstück von bis zu fünf Kilogramm mitnehmen dürfe. Zwei Tage später
marschieren die Deportierten in Kolonnen ab und werden auf verschiedene
Lager im österreichischen Hinterland verteilt, darunter auch das
Barackenlager Mitterndorf, in dem bis zur Rückkehr in ihre Heimat im Mai
1919 insgesamt 192 Menschen aus Vermiglio
sterben.

August 1915
Im August 1915 eröffnet die
»Südbahngesellschaft« eine eigene Bahnstation »Mitterndorf-Moosbrunn«
für das Barackenlager Mitterndorf, von welchem aus 1916 eine zum Lager
führende 60 cm-Schmalspurbahn gelegt wird. (
26. Juni 1916)

August 1915
Im August 1915 wird mit dem Bau einer
Kirche für das Barackenlager
Mitterndorf begonnen. (
5. Dezember 1915)

September 1915
Anfang September 1915 werden rund
3.000 Personen in das noch unfertige Barackenlager
Mitterndorf eingeliefert.

September 1915
Am 8. September 1915 besuchen Mitglieder
des »Hilfskomitees für die Flüchtlinge aus dem Süden« das Barackenlager
Mitterndorf, um sich vor Ort ein Bild über die katastrophalen Zustände
im Lager zu machen. Unter anderem wird festgestellt, dass zur
Milchversorgung des Lagers nur 50 Kühe zur Verfügung stehen.

September 1915
Wegen der zahlreichen Beschwerden über die
mangelhafte Verpflegung durch die »Verpflegsgesellschaft des k. k.
Barackenlagers in Gmünd« wird im Barackenlager Mitterndorf mit dem Bau
sogenannter Sektionsküchen begonnen. (
Juni 1915)

September 1915
Mit 8. September 1915 wird die Zahl der im
Barackenlager Mitterndorf lebenden Personen offiziell mit etwa 7.000
angegeben, am 11. September 1915 bereits mit rund 7.500.

September 1915
Im September 1915 werden erste Fälle von
Diphterie, Scharlach und Typhus unter den Bewohnern des Barackenlagers
Mitterndorf festgestellt.

September 1915
Vom September oder Oktober
bis längstens
Anfang Dezember 1915 arbeit
Jacob Levy Moreno (1889–1974)
das erste Mal im Barackenlager Mitterndorf.
(
Februar
1917)
Als sogenannter Hilfsarzt (Medizinstudent) ist er für zwölf Baracken mit
je zehn Zimmern mit insgesamt etwa 1.200 Personen zuständig.

September 1915
Seit etwa September / Oktober 1915
arbeiten Insassen des Barackenlagers Mitterndorf auch außerhalb des
Lagers, um fehlende Arbeitskräfte in den Fabriken sowie in der Land- und
Forstwirtschaft zu ersetzen.

Oktober 1915
Mach Angaben des Innenministeriums befinden
sich mit 1. Oktober 1915 im Barackenlager Mitterndorf 7.837 »Italiener«
aus dem italienischsprachigen Teil des Kronlandes Tirol.

Oktober 1915
Seit 1. Oktober 1915 werden von der Pfarre
Mitterndorf für die Menschen im Barackenlager Mitterndorf eigene
Matriken geführt.

Oktober 1915
Mit 3. Oktober 1915 wird die Zahl der im Barackenlager
Mitterndorf lebenden Personen offiziell mit etwa 8.000 angegeben.

Oktober 1915
Am 31. Oktober 1915 wird der Friedhof für
die Bewohner des Barackenlagers Mitterndorf von Pfarrprovisor Viktor
Lukasek eingeweiht, eine Erweiterung
des bisherigen Dorffriedhofs von Mitterndorf. (
Februar
1916)

November 1915
Mit 1. November 1915 wird der Kooperator
von Staatz (Niederösterreich), Oskar Herget, zum Lokalprovisor von
Mitterndorf bestellt.

November 1915
Seit November 1915 ist der Ingenieur der
Bezirkshauptmannschaft Wiener-Neustadt Friedrich Schmidtkunz in der
Verwaltung des Barackenlagers Mitterndorf tätig. (
1. August 1915
und Mai
1918)

November 1915
Im November 1915 werden Fälle von Masern,
Diphterie und Abdominaltyphus unter den Bewohnern des Barackenlagers
Mitterndorf festgestellt. (
Februar
1916)

Dezember 1915
Im Dezember 1915 leben im Barackenlager
Mitterndorf bis zu 10.000 Menschen. Sie müssen zum Teil in
sogenannten Zeltbaracken untergebracht werden, zum Teil leben sie in den
nur teilweise eingerichteten Flüchtlingswohnbaracken.

Dezember 1915
Die Barackenkirche des Barackenlagers
Mitterndorf ist soweit fertiggestellt, dass seit 5. Dezember 1915 die
Messen an den Adventsonntagen darin gefeiert werden können. (
August 1915
und 24. Dezember
1915)

Dezember 1915
Im Dezember 1915 bricht eine
Scharlachepidemie im Barackenlager Mitterndorf aus. (
Februar
1916)

Dezember 1915
Am Samstag, dem 24. Dezember 1915, wird
die der »Fuga in Egitto« (Flucht nach Ägypten) geweihte Barackenkirche
des Barackenlagers Mitterndorf eingeweiht. (
5. Dezember 1915) Seitdem wird täglich eine
Messe von einem der im Lager anwesenden elf italienischen Priestern gefeiert.
Leiter der Flüchtlingsseelsorge ist
der Pfarrer aus
Borgo Sacco
(heute zur Gemeinde Rovereto; deutsch: Sach, Gemeinde Rovreit) Luigi Brugnolli
(1855–1923).
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Copyright © 2013 Arnold Krizsanits, Mitterndorf a. d. Fischa
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Stand: Februar 2013

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