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Marie Jahoda über Zielvorstellungen der illegalen Sozialdemokratie Wien, 1935 bis 1936 Wir haben damals schon zu verstehen begonnen, daß die illegale Bewegung keine Revolution machen kann, daß es unmöglich war gegen den Staatsapparat. Aber wir haben als unsere Aufgabe definiert, das Ideenreich des Sozialismus aufrechtzuerhalten. Deshalb sind wir zusammengekommen, deshalb haben wir in den kleinen Gruppen Vorträge gehalten, deshalb hat mich im Jahr 1936 die illegale Bewegung nach Paris geschickt.1 Dort hatte es den ersten Sitzstreik gegeben und Leon Blum2 und die Volksfront.3 Wir hatten von der österreichischen Presse nicht genügend Informationen, und weil ich Französisch sprechen konnte, haben sie gesagt: »Geh. Für eine Woche. Komm zurück. Berichte, was in der Welt vorgeht.« Denn Leon Blum war eine der ausländischen Hoffnungen. Es war nicht die ganze Welt faschistisch und zum Untergang bestimmt. – So, wie der Pessimismus oder die Ohnmacht in der illegalen Partei gewachsen ist, ist auch die Entschlossenheit gewachsen, das Ideengut aufrechtzuerhalten. Wir haben nie Sabotage gemacht, nichts von diesen Dingen. Was wir gemacht haben, war die Situation zu analysieren, Nachrichten zu verbreiten, Zeitungen zu verbreiten, Leute wissen lassen, daß es schlecht ist, was da vorgeht, daß man es verstehen muß und daß irgendwann einmal was anderes kommen wird.Mathias Greffrath: »Ich habe die Welt nicht verändert.« Gespräch mit Marie Jahoda, in: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Greffrath. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979 (= das neue buch. 123.), S. 103–144, hier S. 135.
1 Marie
Jahoda weilte vom 5. Dezember 1935 bis Ende Januar 1936 in Paris.
Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Léon
Blum (Paris 1872 – Jouy-en-Josas, Yvelines 1950):
sozialistischer Politiker; vom Juni 1936 bis Juni 1937, vom März
bis April 1938 und vom Dezember 1946 bis Januar 1947 französischer
Ministerpräsident; 1936/37 bildete er mit Radikalsozialisten
und Kommunisten eine Volksfrontregierung. Anmerkung
Reinhard Müller.
3 Volksfront:
Bezeichnung für eine Koalition, die – im Gegensatz zur so
genannten Einheitsfront – neben kommunistischen und
sozialdemokratischen auch linksbürgerliche Parteien einschloss.
Das wohl bekannteste europäische Beispiel waren Léon
Blums Regierungskabinette 1936/37 und 1938. Anmerkung
Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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