Marie Jahoda über den Februaraufstand 1934

Wien, 12. bis 15. Februar 1934

Ich kann mich noch genau daran erinnern. Ich war vorher in der Pädagogischen Akademie1 gewesen und habe in einer Schule unterrichtet. Um die Mittagszeit bin ich nach Hause gegangen und habe bemerkt, daß Generalstreik ist. Natürlich habe ich gewußt, was das bedeutet. Ich hab damals im Karl-Marx-Hof gelebt [...]. Meine Aufgabe war, vom III. Bezirk in Wien, wo ich unterrichtete, in die innere Stadt2 zu gehen und dort jemand zu treffen, um Bericht zu geben, wie viele von den Schutzbündlern3 mobilisiert worden seien. In der Stadt herrschte schon eine sehr aufgeregte Atmosphäre, man hat schon gewußt, daß in Linz geschossen worden war4 und daß es sich in Wien wiederholen würde. In der Kirche Maria-am-Gestade5 habe ich eine Botschafterin6 vom IX. Bezirk getroffen. Es zeigte sich, daß im III. Bezirk alle Schutzbündler mobilisiert waren, aber sie hatten keine Gewehre. Im IX. Bezirk gab es Gewehre, aber keine Schutzbündler! Und man mußte durch die innere Stadt, durch den I. Bezirk hindurch, um die beiden zusammenzubringen. Aber der I. Bezirk war ganz von Polizei und Armee umgeben und niemand konnte durch. Bei diesem ersten Treffen in der Kirche war ich wirklich überzeugt, daß wir keine Hoffnung hatten. Wir trafen uns damals jeden Tag dort. Ich mußte den Karl-Marx-Hof verlassen,7 denn das war beinahe eine Festung; die Kanonen waren schon am Hügel gegenüber aufgestellt, und ich hatte eine kleine Tochter [d.i. Lotte Lazarsfeld, verheiratete Bailyn]... So bin ich zu meinen Eltern8 im III. Bezirk gegangen. Als wir uns am nächsten Tag wieder trafen und beide aus der Kirche herauskamen, hörten wir plötzlich ein Flugzeug. Und wie wahnsinnig man war... man hat immer noch gehofft, daß der Westen noch helfen wird: wir haben beide damals geglaubt, das sei ein Flugzeug, das auf unserer Seite sein wird. Aber natürlich waren Flugzeuge damals nicht so gewöhnlich, wie sie es jetzt sind. – In dieser Nacht haben die Kanonen angefangen, den Karl-Marx-Hof zu schellen, und es hat viele Tote dort gegeben. Aber nach vier Tagen war alles ganz klar. Es gab nur noch in der Steiermark Widerstand. In Wien war alles zu Ende. Ich bin in den Karl-Marx-Hof zurückgegangen, unsere Wohnung war nicht zerstört. Und ich erinnere mich: In dieser Nacht bin ich mit einem deutschen Genossen, der damals in Wien lebte, der dann später auch im KZ gestorben ist, Oskar Umrath,9 ausgegangen, und wir haben Zettel aufgespickt, auf denen gestanden hat: »Wir kommen wieder.« Es war ganz wahnsinnig, daß wir das gemacht haben. Es war ein ganz klares Zeichen dafür, wie wenig wir im Grunde die ganze Situation der Welt und Österreichs verstanden haben. Aber menschlich war es das einzige, was man hat tun können.
Wie Sie wissen, sind damals dreizehn der Führer der Sozialisten gehenkt worden;10 und unmittelbar nach dem Schießen hinauszugehen, um sich dem auszusetzen, kann man rational gar nicht verteidigen. Aber die Tiefe des Eindrucks dessen, was da geschah, war so groß, man hatte so sehr das Gefühl des Endes einer wirklich sehr großen Bewegung. Man mußte irgend etwas tun, um zu zeigen, daß man protestiert. [...]
Der Generalstreik hat zwei Tage gedauert. Aber dann war die Situation nach der jahrelangen schrecklichen Arbeitslosigkeit so, daß die Eisenbahner und die Straßenbahnfahrer am Tag gearbeitet haben und in der Nacht beim Schutzbund waren. – Wir haben alle gewußt, daß nur der Generalstreik helfen kann, aber der ist nach zwei Tagen vollständig zusammengebrochen, weil Arbeit haben und sich nicht dem Verdacht auszusetzen so wichtig war, daß die Menschen zwei Leben gelebt haben: in der Nacht schießen und bei Tage die Arbeit verrichten, als wär nichts geschehen. Ja, es war eine durchaus tragische Situation. Der letzte Mann, der noch gekämpft hat, war Koloman Wallisch11 in der Steiermark, der mit ein paar Freunden in die Berge gegangen ist, und der nach vier oder fünf Tagen von jemandem verraten wurde. Er wurde auch gehenkt.
Ich erinnere mich, ich hab damals auch in der Forschungsstelle gearbeitet, und ich bin etwa nach einer Woche dorthin zurückgegangen. Da hat mir eine Kollegin gesagt: »Mitzi, wenn du so ausschaust und dein Haar nicht wäschst und nicht eine frische Bluse nimmst, wirst du sofort verhaftet werden. Die Leute sehen es dir am Gesicht an, wo du stehst und wohin du gehörst.« Wissen Sie, es ist eine dumme kleine Anekdote, aber ich hab in dieser Woche selber nicht gewußt, was ich tue. Man hat erlebt, ohne das Bewußtsein des Erlebens. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, daß mir das jemand das sagen konnte. Ja, es war eine schreckliche Zeit.

Mathias Greffrath: »Ich habe die Welt nicht verändert.« Gespräch mit Marie Jahoda, in: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Greffrath. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979 (= das neue buch. 123.), S. 103–144, hier S. 125–128.


1 Recte Pädagogisches Institut der Stadt Wien. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Gemeint ist der 1. Bezirk, Innere Stadt. Anmerkung Reinhard Müller.
3 Schutzbündler: Angehöriger des »Republikanischen Schutzbundes«, einer paramilitärischen Organisation der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs« (SDAP), die 1924 zur Verteidigung der demokratischen Republik gegründet worden war. Obwohl am 31. März 1933 vom Ständestaat-Regime verboten, erhielten sich große Teile des »Republikanischen Schutzbundes«, teils halblegal, teils im Untergrund, und trugen auf Seite der Arbeiterschaft die Hauptlast der Kämpfe im Februar 1934 zur Verteidigung der Demokratie. Anmerkung Reinhard Müller.
4 Ausgelöst wurde der viertägige Aufstand am Morgen des 12. Februar 1934 durch eine provokatorische Durchsuchung des Linzer Arbeiterheimes »Hotel Schiff« durch die Polizei. Anmerkung Reinhard Müller.
5 Maria am Gestade: Kirche in Wien 1., Salvatorgasse. An anderer Stelle berichtet Marie Jahoda, es sei in der Minoritenkirche, Wien 1., Minoritenplatz, gewesen. Anmerkung Reinhard Müller.
6 Nämlich die spätere Psychoanalytikerin Ella Reiner (1908–2002). Anmerkung Reinhard Müller.
7 Hier wohnte Marie Jahoda seit Herbst 1930. Anmerkung Reinhard Müller.
8 Damals lebte nur mehr Jahodas Mutter, Betty Jahoda (1881–1967), mit ihrem Sohn Eduard Jahoda (1903–1980) und dessen Familie in der Seidlgasse 22. Anmerkung Reinhard Müller.
9 Oskar Umrath (Chemnitz, Sachsen 1913 – Berlin 1943): Jurist und Publizist, sozialdemokratischer Widerstandskämpfer; schon früh Mitglied der »Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« (SPD), wurde er im November 1938 wegen Betätigung gegen das nationalsozialistische Regime verhaftet und im September 1939 vom Volksgerichtshof zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt; er verstarb im Haftkrankenhaus. Anmerkung Reinhard Müller.
10 Hier irrt Marie Jahoda: Es waren neun Aufständische, die hingerichtet wurden. Anmerkung Reinhard Müller.
11 Koloman Wallisch (Lugosch, Ungarn [Lugoj, Rumänien] 1889 – Leoben, Steiermark 1934): sozialdemokratischer Politiker; 1930 bis 1934 Abgeordneter zum Österreichischen Nationalrat; rief am 12. Februar 1934 als Kommandant des »Republikanischen Schutzbundes« für die Obersteiermark zum Kampf auf und wurde nach seiner Gefangennahme am 19. Februar 1934 gehenkt. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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