Marie Jahoda über die Untergrundgruppe »Revolutionäre Sozialisten Österreichs«

Wien, 1934 bis 1936

Da war Hans Sailer. Er war der offizielle Führer der sozialdemokratischen Bewegung bevor sie noch Revolutionäre Sozialisten geheißen haben. Aber er wurde entdeckt und verhaftet. Nach seiner Verhaftung wollte er wieder seine Führerrolle übernehmen. [Joseph] Buttinger hat inzwischen die Leitung der Revolutionären Sozialisten übernommen. Und Buttinger hat ein gutes Argument gehabt; nämlich, dass jemand, der gerade nach ein oder zwei Jahren aus dem Gefängnis kommt, nicht der beste Führer für eine illegale Bewegung ist. Das hat sich nie vollständig aufgeklärt in Wirklichkeit. Ich glaube, dass als geistige Begabung der Buttinger dem Hans Sailer überlegen war. Hans Sailer hat aber die ganze alte Organisation hinter sich gehabt. Diese Konflikte haben eine große Rolle gespielt.
[Robert Knight:] Also Sailer wurde von der Führung im Exil unterstützt?
Ja, von Brünn1 her unterstützt. Ich habe einen Fuß in beiden Lagern gehabt, aber ich habe immer mehr und immer intensiver mit Buttinger zusammengearbeitet. Meine Funktion war, ihm Wohnungen zu verschaffen, wo er übernachten konnte. Er war vollständig illegal damals. (Meine Funktion war weiters) Berichte zu schreiben; auf Englisch würde man das nennen »personal assistant«. Das war alles, was es damals gegeben hat: die Diskussionen einzuleiten, Verbindungen aufzunehmen mit verschiedenen Leuten. Da waren zum Beispiel die Kommunisten, die eine Einheitsfront mit den Sozialdemokraten machen wollten. [...] Ich habe das Zusammentreffen zwischen Buttinger und den Kommunisten organisiert, die Papiere bekommen, die Abschriften gemacht, um zu sagen was behandelt wurde, worüber geredet wurde. Es kam nie zu einer wirklichen Verbindung, aber es gab eine Menge Diskussionen mit den Kommunisten.
[Robert Knight:] Was waren denn die Hauptdifferenzen?
Die Hauptdifferenz war in der Haltung von »Neu Beginnen«, die anti-kommunistisch war vom Anfang bis zum Ende. Und es war zweitens die ganz verschiedene Einstellung zur Strategie der illegalen Bewegung. Die Kommunisten wollten Massendemonstrationen machen, wollten plötzlich Versammlungen haben, Menschen zusammenrufen, demonstrieren, zeigen, dass sie da waren. Und Buttinger und das ganze Zentralkomitee der Revolutionären Sozialisten waren überzeugt davon, dass das nur zu Verhaftungen führen konnte, (sonst) keinen Zweck, keinen Sinn hatte. Dieser Gegensatz auf organisatorischer Ebene war eines Teils in den Verhandlungen mit den Kommunisten (zu bemerken), anderen Teils auch in den Verhandlungen mit Karl Hans Sailer. Denn auch da war das Gefühl, eine Massenbewegung muss zeigen, dass sie existiert, auch wenn es keine praktischen Folgen hat, vorherrschend. Während Buttinger immer mehr auf die Idee gekommen ist, dass das Einzige, was man in der gegebenen Situation tun konnte, war, den Gedanken des Sozialismus aufrecht zu erhalten, zu sehen, dass die Menschen Informationen bekommen und wissen, was in Österreich und was im Ausland vor sich geht; dass es Diskussionen geben musste, aber dass es für eine Aktion keine Basis gegeben hat. Das war, glaube ich, auf beiden Seiten der wichtigste Unterschied.
Nun, die offizielle Bewegung: Ich hatte mit ihr Verbindung durch Fritz Jahnel. Die haben die »Arbeiter-Zeitung« reingebracht und verbreitet in sehr vielen Exemplaren. Sie haben verstanden wunderbare Dinge durchzuführen. Eines der schönsten Beispiele war: Da gab es in Mariahilf2 ein kleines Geschäft dessen Inhaber zu den Sozialisten gehört hat, und wo die Leute hingegangen sind um die »Arbeiter-Zeitung« abzuholen. Eines Tages ist der Mann verhaftet worden und man hat gewusst, dass dort die Polizei sitzt und dass in vier Tagen hunderte Vertrauensleute hinkommen werden und dass jeder Einzelne verhaftet würde. Da hat einer – ich glaube, es war der Fritz Jahnel, ich weiß das nicht bestimmt – die wunderbare Idee gehabt, ein Inserat in den »Abend«3 zu geben und zu sagen, dass dort eine Hausbesorgerstelle offen steht und dass Leute, die daran interessiert sind – mit einem relativ guten Gehalt – an gegebenem Tag, wo unsere Vertrauensleute hinkommen sollten, (ebenfalls) erscheinen sollten, um sich um die Stelle zu bewerben. Zweihundert Leute sind dort angestellt gestanden – es war noch immer die Arbeitslosigkeit das große Problem –, und von unseren Vertrauensleuten ist kein einziger verhaftet worden. Jeder hat bemerkt, was da vorgeht. Das war eine großartige Idee; viele solche, wirklich eindruckvolle, phantasievolle Wege, der Polizei zu entgehen. Aber die meisten Leute sind ihr nicht entgangen.

Robert Knight: Interview mit Marie Jahoda am 28. August 1985. Quelle: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien.

1 Im tschechoslowakischen Brno (Tschechische Republik) installierten exilierte österreichische Sozialdemokraten ihre wichtigste Auslandsorganisation, das »Auslandsbüro österreichischer Sozialdemokraten« (ALÖS). Anmerkung Reinhard Müller.
2 Mariahilf: 6. Wiener Gemeindebezirk. Anmerkung Reinhard Müller.
3 Der Abend (Wien): 1915 bis 1934 erscheinende Tageszeitung, gilt als Beginn der Boulevardpresse österreichischer Prägung. Da das Blatt bereits am 25. Februar 1934 eingestellt worden war, liegt hier wohl ein Erinnerungsfehler Marie Jahodas vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Blatt 1948 wiederbegründet, musste aber 1957 sein Erscheinen einstellen. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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