[Franz] Brandl

Schreiben der Bundes-Polizeidirektion in Wien an die Niederösterreichische Landesamtsdirektion in Wien

Wien, am 24. Juni 1932; 4 Bl., pag. 7–10; Maschinenschrift.

Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz), Virtuelles Archiv »Marienthal«, Sammlung Klaus Taschwer. Beachten Sie das Copyright!

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Bundes-Polizeidirektion in Wien.

Pr. Zl. IV-535/32. Wien, am 24. Juni 1932.
Studierende des psychologischen Institutes,

Untersuchungen in Gramatneusiedl.

Streng vertraulich

An

die Amtsdirektion II der niederösterreichischen Landesregierung

in

Wien.

Unter Bezugnahme auf die Zuschrift vom 13. Jänner 1932, Pr. II-4070/32, beehrt sich die Bundespolizeidirektion Nachstehendes mitzuteilen:

Nach den im Rektorate der Wiener Universität sowie im psychologischen Institute eingeholten Auskünften ist tatsächlich eine Gruppe von 15 Studierenden, darunter auch die im Berichte des Gendarmerie-Postenkommandos Gramatneusiedl genannten Personen, im Auftrage des erwähnten Institutes damit befasst, zu wissenschaftlichen Zwecken in Marienthal bei Gramatneusiedl praktische Studien unter der Bevölkerung über die Wirkungen der Arbeitslosigkeit anzustellen. Ueber die hiebei erzielten Forschungsergebnisse werden dem Institutsleiter Universitätsprofessor D[okto]r Karl Bühler, Vorstand des psychologischen Institutes Berichte vorgelegt. Die Abschrift eines solchen vom psychologischen Institute zur Verfügung gestellten Berichtes ist angeschlossen. Das gesamte Material dieser Forschungsarbeiten soll später zusammengefasst und in einem Werke herausgegeben werden. Die erwähnte Tätigkeit der Studierenden, die bis zu den Ferien fortgesetzt werden soll, beschränkt sich nach den Weisungen des Institutes bloss auf den Ort Marienthal.

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Ueber die im Berichte des Gendarmeriepostenkommandos Gramatneusiedl genannten Personen wird im einzelnen Folgendes mitgeteilt:

Die I., Wallnerstrasse N[umme]r 8 wohnhafte Gertrude WAGNER, geborene Höltei, (am 13. Dezember 1907 zu Görz geboren, nach Wien zuständig, konfessionslos, verheiratet) ist die Tochter des Hofrates Ingenieur Jakob Höltei und seiner Gattin Stefanie, welche in Wien, IX., Hahngasse Nr. 6 wohnen. Gertrude Wagner studierte an der Wiener Handelsakademie und war auch mehrere Semester an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität inskribiert. Sie steht dermalen angeblich als Fürsorgerin der Kinderübernahmsstelle in städtischen Diensten. Ihr Gatte Ludwig Wagner, (am 23. Februar 1900 zu Wien geboren und zuständig, konfessionslos), der früher auch den Namen Wielander geführt hat, ist angeblich Redakteur der »Arbeiter-Zeitung«. Er fungiert als Eigentümer, Verleger, Herausgeber und verantwortlicher Schriftleiter der seit dem Jahre 1925 in Wien erscheinenden periodischen Druckschrift »Der Schulkampf«, des Organes des »Bundes sozialistischer Mittelschüler Oesterreichs«, ist wiederholt in Versammlungen sozialistischer Mittelschüler als Redner aufgetreten und hat sich auch an anderen sozialdemokratischen Veranstaltungen beteiligt. Im Jahre 1918 wurde gegen ihn von der Bundespolizeidirektion eine Anzeige wegen Verdachtes des Verbrechens des Hochverrates an die Staatsanwaltschaft I zu Wien erstattet, da er im Besitze von Flugblättern sozialrevolutionären Inhaltes betreten worden war; das bezügliche gerichtliche Verfahren wurde jedoch eingestellt. Wagner war auch an den von sozialdemokratischer Seite veranlassten Demonstrationen, welche im Jahre 1928 vor dem Café Prückl[1] im Wiener I. Bezirke anlässlich der Aussperrung der Angestellten seitens der Eigentümerin stattfanden, beteiligt. Er wurde

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im Jahre 1929 vom Strafbezirksgerichte I zu Wien wegen Uebertretung nach § 312 St[raf-]G[esetz] mit 15 S[chilling] eventuell 24 Stunden Arrestes bestraft. Gertrude Wagner gehört angeblich gleichfalls der sozialdemokratischen Partei an, doch hat sie sich bisher politisch nicht bemerkbar gemacht.

Als bestraft erscheint sie nicht vorgemerkt.

Walter Wodak, Student, (am 22. November 1908 zu Wien geboren, hierselbst heimatberechtigt, mosaisch, ledig) in Wien II., Rembrandtstrasse Nr. 35 wohnhaft, ist der Sohn des Kaufmannes Jakob Wodak und seiner Gattin Emilie, welche unter derselben Adresse wohnen. Walter Wodak hat das Realgymnasium absolviert und ist gegenwärtig Hörer an der juristischen Fakultät der Wiener Universität. Er fungiert als Obmann der »Vereinigung sozialistischer Mittelschüler«, ferner als Vorstandsmitglied des »Verbandes der sozialistischen Studenten Oesterreichs« und ist in dieser Bewegung schon seit mehreren Jahren tätig.

Vom Strafbezirksgerichte I zu Wien wurde er im Jahre 1928 wegen Uebertretung nach § 19, 20 Pressgesetz zweimal zu je 10 S eventuell je 12 Stunden Arrestes verurteilt.

Die im VIII. Bezirke, Alserstrasse Nr. 43 wohnhafte Dr. Lotte Danzinger, (am 22. Dezember 1905 zu Wien geboren, hierselbst heimatberechtigt, evangelisch A[ugsburger] B[ekenntnis], ledig), die Tochter des Magisters der Pharmazie Leo Erwin Danzinger und seiner Gattin Pauline, studierte nach Absolvierung des Realgymnasiums an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität, wo sie im Februar 1930 zum Doktor der Philosophie promoviert wurde. Gegenwärtig ist sie als Fürsorgerin der städtischen Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien tätig.

Dr. Lotte Danzinger, die zu irgendwelchen nachteiligen Wahrnehmungen bisher keinen Anlass gegeben hat, erscheint als bestraft

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oder beanständet nicht vorgemerkt. In politischer Beziehung ist sie links orientiert, jedoch bisher aktiv nicht hervorgetreten.

[Franz] Brandl

n[ieder] ö[sterreichische] Landesamtsdirektion

23. Jun[i] 1932

Zahl 2526/1 1 Heft

[1] Recte Café Prückel: 1903 eröffnetes, heute noch existierendes Kaffeehaus in Wien 1., Stubenring 24 / Dr.-Karl-Lueger-Platz 6; an der hier erwähnten Demonstration war auch Marie Jahoda (1901–2001) beteiligt und wurde dadurch erstmals bei der Polizei aktenkundig. Anm. R.M.