Ernst Gehmacher

Müller, Reinhard: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie (2008). Innsbruck / Wien / Bozen: StudienVerlag

in: SWS-Rundschau. Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft (Wien), 48. Jg. (2008), Nr. 4.

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Müller, Reinhard: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie (2008)

Innsbruck / Wien / Bozen: StudienVerlag

Rezensiert von: Ernst Gehmacher

Auf 424 Seiten hat der Soziologe Reinhard Müller die Geschichte der Gemeinde Gramatneusiedl sowie der dazugehörigen Fabrik und Arbeiterkolonie Marienthal, südlich von Wien, geschrieben. Das Buch ist die penibel recherchierte Sammlung historischer Daten und Berichte über diese Gemeinde und ihr Umland, von der ersten Erwähnung von »Gezen-Niusidelen« (nach Gezö, der auch dem nahe gelegenen Götzendorf seinen Namen gegeben hat) über die Türkenbelagerung und die Kuruzzen-Einfälle, den Aufstieg in der Industrialisierung, über den Niedergang in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre und den Nationalsozialismus bis zum langsamen Wiederaufstieg in der Gegenwart.

Warum wurde diese überdimensionierte Lokalgeschichte gerade dieses Ortes zu einem so großen und bemerkenswerten Buch? Zweifellos ist der Grund dafür die Studie von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel über »Die Arbeitslosen von Marienthal«, die dort 1930 bis 1932 durchgeführt wurde. Diese Studie ist nicht nur in den Sozialwissenschaften zum Klassiker geworden, sondern hat dazu beigetragen, dass Arbeitslosigkeit als Bedrohung jeder modernen Gesellschaft zu einer zentralen Sorge der Sozialpolitik geworden ist. Allerdings kam dieses Bewusstsein zu spät, um noch Faschismus und den Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Erst nach dieser katastrophalen Krise der modernen Gesellschaft griffen die Baumeister des neuen Wohlfahrtsstaats auf das breite Verständnis für die gefährliche Wirkung von Arbeitslosigkeit zurück. Die psychologisch-soziologische Forschung hat sowohl exakt recherchierte Beweise für den schweren Schaden der Schließung eines Unternehmens als auch lebensnahe Berichte über die Folgen von Arbeitslosigkeit gebracht. Die Symbolkraft eines Titels »Wenn Menschen Hunde essen« (283) ist stärker als die Statistik, dass die »Verzweifelten« und »Apathischen« mit einem Monatseinkommen von 21 Schilling durchkommen mussten, die »Ungebrochenen« aber noch über 34 Schilling verfügten, wobei die ersten beiden Gruppen bei weitem die Mehrheit bildeten (286).

Reinhard Müller will die Marienthal-Studie nicht ersetzen, sondern regt in den Hinweisen auf die Studie eher an, sich mit ihr zu beschäftigen. Doch wer immer sich mit dem Klassiker von Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel zur Sozialforschung befasst hat, wird durch das Dokumentar-Werk von Reinhard Müller die ursprüngliche Marienthal-Studie in ihrem historischen Rahmen viel besser verstehen und viel über konkrete Soziologie lernen. Und das in zweierlei Hinsicht: einerseits durch den Blick auf die Vielfalt der Personen und Institutionen, die in der Geschichte einer relativ unbedeutenden Textilfabrik und ihres ländlichen Umfelds zusammenwirkten – vom adligen Todesco-Clan bis zur Filmregisseurin Karin Brandauer, die 1988 mit dem Film »Einstweilen wird es Mittag« das Thema auch ins Fernsehen brachte; andererseits durch das Lebendig-Machen der großen historischen Zusammenhänge in ihrer Wirkung auf die Einzelschicksale. Die populistische Wirksamkeit des nationalsozialistischen Antisemitismus wird am Beispiel des »Raten-Juden«, der auch noch den mittellosen Arbeitslosen Geld lieh, in ihrer Ambivalenz begreiflich (269).

Ein Buch zum Hineinblättern, zum Nachdenken, zum Zitieren. Zu einem leider immer aktuellen Thema, zur sozialen Herausforderung der Arbeitslosigkeit. Für eine breites LeserInnen-Publikum mühsam erscheint die archivarische Akribie des Buches.