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Die Bevölkerung Marienthals und des Bauerndorfs Gramatneusiedl
1857 bis 1910
in
Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Mit
Quellentexten von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Käthe Leichter, Robert N. McMurry, Ludwig Wagner und anderen. Innsbruck–Wien–Bozen: StudienVerlag 2008,
S. 90–91.
90
Zum Bau neuer Arbeitersiedlungen nötigte die vor allem in den 1880er-Jahren zunehmende Beschäftigtenzahl der Textilfabrik Marienthal. Die amtlichen
Erhebungen für die Jahre 1847 bis 1910 zeigen, dass sich innerhalb von 50 Jahren die Bevölkerungszahl Marienthals mehr als verdoppelte. Der Anstieg der Einwohnerschaft des Bauerndorfs
Gramatneusiedl von 362 auf 876 ist zwar ebenso beachtlich, doch wurde dieser wesentlich durch die Arbeiterschaft
Marienthals verursacht, welche sich seit den 1880er-Jahren verstärkt außerhalb des eigentlichen Koloniebereiches niederließ.
anwesende Bevölkerung in Gramatneusiedl |
| |
Gramatneusiedl (gesamt) |
davon in Marienthal |
| |
|
Einwohner |
|
Einwohner |
Jahr |
Häuser |
gesamt |
männlich |
weiblich |
Häuser |
gesamt |
männlich |
weiblich |
1857 |
– |
1.162 |
– |
– |
– |
~800 |
– |
– |
1869 |
55 |
1.335 |
668 |
667 |
– |
– |
– |
– |
1880 |
64 |
1.489 |
721 |
768 |
– |
– |
– |
– |
1890 |
80 |
2.543 |
1.239 |
1.304 |
18 |
2.148 |
1.039 |
1.109 |
1900 |
111 |
2.707 |
1.286 |
1.421 |
17 |
1.840 |
– |
– |
1910 |
126 |
2.565 |
1.242 |
1.323 |
18 |
1.689 |
– |
– |
Marienthal ohne den Anteil in Reisenberg (siehe S. 9).
Quelle:
Gemeindeschematismus 1862 und Österreichische Volkszählungen 1869–1910.
Die Arbeiterschaft kam überwiegend aus Böhmen und Mähren, insbesondere den dortigen Textilfabrikorten. Nur
etwa 30 Prozent der Beschäftigten kamen aus Gramatneusiedl beziehungsweise aus Orten in einem Umkreis von 50 Kilometern. Im Zeitraum 1871 bis 1900 kamen sogar, wie Johanna Muckenhuber erhob, bis zu [91] 90 Prozent der Beschäftigten aus Ortschaften außerhalb Niederösterreichs, doch änderte sich dieses Migrationsmuster insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg: In den 1920er-Jahren
stammten bis zu 60 Prozent aus Gramatneusiedl und Umgebung.
Geografische Herkunft der Beschäftigten der Textilfabrik Marienthal 1839–1929
Herkunftsprovinz |
Prozent |
|
Herkunftsprovinz |
Prozent |
Niederösterreich |
31,67 |
|
Österreichisch-Schlesien |
2,15 |
Böhmen |
30,88 |
|
Preußisch-Schlesien |
5,20 |
Mähren |
12,67 |
|
restliches Europa |
10,87 |
Ungarn |
6,22 |
|
außerhalb Europas |
0,34 |
Quelle: Johanna Maria Muckenhuber:
Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Marienthal, Bl. 33.
Ein Besuch des Friedhofs von Gramatneusiedl – noch heute dominieren tschechische und slowakische Namen auf den Grabsteinen, doch gibt es auch bemerkenswert viele ungarische – belegt
die geografische Herkunft der Bewohnerschaft deutlicher, als die Angaben der Volkszählungen. Hier wurde zwar die Umgangssprache erhoben, doch lässt dies im Wesentlichen nur die Selbstklassifizierung der Personen und eventuell den Grad der sprachlichen Assimilation erkennen. Ähnliches gilt auch für die
Zahl der Angehörigen der römisch-katholischen Kirche. Viele müssen als bloße Taufscheinkatholiken eingeschätzt werden: So berichtet die Pfarrchronik, dass 1913 von den etwa 2.700 Katholiken des Ortes (einschließlich
Neu-Reisenbergs) bei einem hohen kirchlichen Festtag nur rund 320 zur Kommunion gingen. (Vgl. Denkbuch, Bd. 2, S. 78.) Konfessionslose spielten allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg eine Rolle.
Bevölkerung von Gramatneusiedl |
|
einheimische Bevölkerung |
anwesende Bevölkerung |
|
Umgangssprache |
Religionsbekenntnis |
Jahr |
deutsch |
tschechisch
slowakisch* |
andere |
römisch-katholisch |
evangelisch |
jüdisch |
andere |
konfessionslos |
1880 |
817 |
582 |
90 |
1.475 |
14 |
0 |
0 |
0 |
1890 |
1.578 |
758 |
207 |
2.528 |
8 |
7 |
0 |
0 |
1900 |
2.012 |
460 |
1 |
2.686 |
8 |
12 |
1 |
0 |
1910 |
2.033 |
286 |
0 |
2.541 |
12 |
12 |
0 |
0 |
* tschechisch / slowakisch: im Original »böhmisch-mährisch-slowakische Nationalität«.
Quelle:
Österreichische Volkszählungen 1880–1910.
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Eine wichtige Quelle für die Zusammensetzung der
Arbeiterschaft der Textilfabrik Marienthal befindet sich im Archiv der Marktgemeinde Gramatneusiedl: vier Arbeiter-Protokollbücher, die den Zeitraum von den 1860er-Jahren bis zur Fabrikschließung 1930 abdecken. Diese wurden stichprobenartig ausgewertet von Johanna Maria Muckenhuber:
Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Marienthal. Eine Analyse der Daten aus den Arbeitsbüchern der Marienthaler Textilfabrik von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Schließung der Fabrik
1929/30 unter besonderer Berücksichtigung der Migrationsmuster sowie der Sozialstruktur der ArbeiterInnenschaft hinsichtlich ihres Erlebens der Arbeitslosigkeit. Diplomarbeit. Graz 2005.
© Reinhard Müller
Stand: Juni
2010
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