Marie Jahoda über eine polizeiliche Vernehmung

Wien, November 1936 bis Januar 1937

Da gab es eine phantastische Geschichte: Ich hab damals Material für eine Arbeit gesammelt über die zwei Kulturen in Österreich. Ich wollte das demonstrieren mit den zwei Witzfiguren, die es in Österreich gab, dem kleinen Moritz und dem Aristokraten Graf Bobby. Ich hatte eine Sammlung von ungefähr 200 Witzen und war im Begriff, darüber etwas zu schreiben. Die Männer, die die Kreuzverhöre machten, haben all meine Akten, aus der Forschungsstelle und von zu Hause, gehabt und geschrien: »Wir wissen, Sie lügen, wir wissen, wir werden Sie schon noch überführen.« Die sind das ganze Material durchgegangen. In den Verhören wurde ich angeschrien; niemand hat mich geschlagen oder physisch gequält, aber sie haben mich stehen lassen für zwei Stunden, während sie alle dagesessen, [!] sind, und sehr beleidigt: immer nur mit dem Zunamen angeredet, eine Menge Licht auf mein Gesicht usw. Und eines Nachts kam ich wieder zu einem Verhör, und sie sagten: »Was ist das?« Und ich sagte: »Das ist Material zu einer Arbeit, das ich gesammelt hab.« – »Wir wissen, daß Sie lügen; wir werden schon sehen, was das ist.« Und sie fangen an und lesen einen dieser Witze laut vor. Diese Männer, die mich da immer verhört haben – der Vorsitzende war ein Dr. Stegerwald von der Vaterländischen Front,1 der hat natürlich gemerkt, daß das richtig war – waren so müd und gelangweilt, und ich war müd, und da hat es in dieser Nacht eine wirklich unbeschreibliche Szene gegeben. Einer liest den ersten Witz vor, niemand sagt etwas. Und er schreit mich an und sagt: »Wir werden schon herausfinden, was da wirklich dahinter ist.« Und liest den zweiten Witz vor. Bevor man weiß, was geschieht, lachen diese meine Erzfeinde und ich, lachen zusammen, lachen hysterisch. Einer der Männer steht auf und gibt mir einen Sessel, ein anderer gibt mir eine Zigarette. Sie sagen: »Frau Doktor, setzen Sie sich nieder.« Und zum Spaß sagen sie nach jeden [!] zehn Minuten: »Wir werden schon herausfinden, was Sie für eine Verbrecherin sind.« Und lesen weiter. Das war ein so unheimliches, außerordentliches Erlebnis, ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können... Man weiß, das ist der Feind, man weiß, man muß lügen, man weiß, man darf nichts geben. Und in dieser hysterischen Situation diese Witze – beide Arten sind so großartig, und so typisch für die zwei Kulturen... Nach ungefähr einer Stunde haben sie mich zurückgeschickt. Nächste Nacht: als wäre nichts geschehen. Aber es hat mich in meiner Zelle viel Zeit gekostet, bis ich mich damit abfinden konnte, daß ich mit diesen Menschen eine Stunde verbracht habe, als wären sie Menschen und ich ein Mensch, wo alles Feindliche weg war, hysterisches Lachen und diese klare Prätention: »Wir werden es schon noch herauskriegen...« Eine unheimliche Situation.

Mathias Greffrath: »Ich habe die Welt nicht verändert.« Gespräch mit Marie Jahoda, in: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Greffrath. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979 (= das neue buch. 123.), S. 103–144, hier S. 131–132.


1 Vaterländische Front: am 20. Mai 1933 vom Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (Texing, Niederösterreich 1892 – Wien 1934) geschaffene Organisation zur Zusammenfassung aller regierungstreuen Kräfte; nach Auflösung aller politischen Parteien alleiniger öffentlicher Träger der politischen Willensbildung im österreichischen Ständestaat; von den Nationalsozialisten im März 1938 aufgelöst. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

VERFOLGUNG & VERTREIBUNG
Verhaftung
Pressereaktionen
Beschlagnahmungen
Vernehmungen
unheimliche Heiterkeit
schreckliche Bilder
5. Jänner 1937
Polizeibericht 1
Polizeibericht 2
Haftbedingungen
Gedichte aus der Haft
Erfahrungen aus der Haft
Brief an Horkheimer
internat. Fürsprache
abgelehntes Gnadengesuch
Anklage
Hauptverhandlung
Urteil
politische Intervention
Vertreibung