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Johannes Messner1 Brief an den
Justizminister Adolf Pilz mit einem Brief von Pater Leo O’Hea
und einem Memorandum von Alexander Farqharson Wien, 26. Juni 1937 Herrn Hofrat Dr. Adolf Pilz, Bundesminister für Justiz, Wien, I., Herrengasse Nr. 7.Sehr verehrter Herr Minister! Anbei übersende ich Ihnen in Übersetzung einen Brief von P.L. O’Hea S.J., dem Sekretär der Catholic Social Guild,2 Oxford, und bitte Sie prüfen zu lassen, ob die Erwartungen, die an die Intervention von katholischer Seite in England geknüpft werden, sich erfüllen lassen. Mit verehrungsvoller Begrüssung Ihr sehr ergebener J. Meßner P.S. Wie ich einer Rücksprache mit dem Anwalt3 der Frau Dr. Jahoda entnehme, ist die Verhandlung auf den 2. Juli angesetzt. Die Verhandlung würde, wenn das bei Ihnen erliegende Gnadengesuch4 berücksichtigt würde, entfallen. Vielleicht könnten Sie mit Staatssekretär [Michael] Skubl,5 auf den es besonders ankommen soll, sprechen, dass er seine Einwände zurückzieht. Mir schiene es, da die Frau schon eine Berufung nach England hat, im Staatsinteresse erwägenswert, wenn es möglich ist, ein Entgegenkommen zu zeigen, da wohl anzunehmen ist, (der Rechtsanwalt versichert dies), dass die Frau auch in England gegenüber Österreich sich loyal verhalten würde. Brief des Herrn Rev[erend] L[eo] O’Hea S.J. Oxford:6 Der Sekretär des Soziologie-Institutes,7 einer wichtigen Organisation für Sozialstudien mit Hauptniederlassungen in London, hat mich wegen Frau Dr. Marie Jahoda gesprochen und mich gefragt, ob zu ihren Gunsten eine Intervention von katholischer englischer Seite bei Katholiken in Österreich möglich wäre. Er gab mir das beigeschlossene Memorandum über sie. Ich sehe daraus, dass sie eine jüdische Freidenkerin ist und dass sie höchstwahrscheinlich in sozialdemokratische Tätigkeit verwickelt war. Das Soziologie-Institut möchte sie so baldals [!] möglich nach London bringen, damit sie für es Forschungen anstelle. Sie halten sie für eine Forschungsarbeiterin von hervorragenden Fähigkeiten. Ich möchte noch hinzufügen, dass das Soziologie-Institut bereits an den österreichischen Kanzler,8 den Staatssekretär ([Michael] Skubl) und den österreichischen Gesandten in London9 herangetreten ist. Ich hoffe, dass wir uns im September wieder in Malines10 treffen werden. [Übersetzung des Memorandums von Alexander Farqharson]11 Dr. Marie Jahoda Fr[au] Dr. Jahoda ist in Wien 1907 geboren. Sie maturierte mit Auszeichnung; studierte an der Wiener Universität Philosophie und Psychologie bei Professor [Karl] Bühler undProf. [!] [Robert] Reininger. Sie machte die Volksschullehrerprüfung mit Auszeichnung. These: »Anamnescu [!] im Versorgungshaus«. 1933–1934 war sie Volksschullehrerin.Februar 1934 wurde sie von der Schule entlassen (mit allen anderen, die unter dem sozialdemokratischen Regime gedient hatten, – die Schulen werden vom Staate geführt.) 1934: Sie gründete eine wirtschaftspsychologische Forschungsstelle, nämlich Ökon[omische !] Untersuchungsstelle für grosse Firmen etc. Gleichzeitig schrieb sie eine Anzahl von Werken: »Der Einfluss der Arbeitslosigkeit auf die Kinder«. »Junges Volk von Österreich« als Beitrag einer internationalen Zeitschrift in diesem Fach, gegründet von der »Genfer Int[ernationalen] Union. Rette die Kinder«12 (Grossbritannien nahm unter anderen Nationen auch daran teil). Am 27. November 1936 wurde [!] sie und alle ihre Kollegen wegen illegaler politischer Tätigkeit verhaftet. Die Polizei war jedoch gezwungen einzusehen, dass dieses Institut keine Miene [!] illegaler Tätigkeit war und alle diese Angestellten, mit Ausnahme von vier, eine unter diesen war Frau Dr. J[ahoda], wurden freigelassen und durften ihre Arbeit fortsetzen. Fr[au] Dr. J[ahoda] wurde auf drei Monate wegen schwebender Untersuchung verhaftet, aber zu diesen wurden kürzlich 6 Monate hinzugefügt. Das einzige, was ihr die Polizei zur Last legen kann, ist illegale politische Tätigkeit, auf die Tatsache aufgebaut, dass man illegale Zeitungen und Schmähschriften in ihrem Besitz fand. Für dies würde die Mindeststrafe ein Jahr Gefängnis sein, von der Zeit des Verhöres an, das ihr Rechtsfreund (Dr. [Egon] Bergel, I., Stubenring 6) nicht vorungefähr [!] 6 Monaten erwartet. Andererseits arbeiten 3 Faktoren für eine Milderung des Urteils:
Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Nachlass Marie Jahoda, Signatur 41/7.1.1, pag. 116–119. Abgedruckt in: Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter (Graz), Nr. 1 (September 1988), S. 15–18. © Copyright Anfragen an das Archiv
1 Johannes
Messner, d.i. Johannes Meßner (Schwaz in Tirol, Tirol 1891 –
Wien 1984):
Sozialwissenschaftler und katholischer Theologe; zum Zeitpunkt des
Briefes außerordentlicher Universitätsprofessor der Ethik
und christlichen Sozialwissenschaft an der Universität Wien;
1938 bis 1949 in Großbritannien im Exil. – Adolf
Pilz (Wien 1877 – Wien 1947): österreichischer Jurist und
christlichsozialer Politiker; November 1936 bis Februar 1938
Justizminister. – Pater
Leo O’Hea (1881–1976):
britischer Jesuit; Sekretär der »Catholic Social Guild«.
– Alexander
Farquharson
(1882–1954):
Soziologe; damals General Secretary des Institute of Sociology der
University of London. Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Catholic
Social Guild: 1909 vom Jesuitenpater Charles Dominic Plater
(1875–1921) in Manchester gegründete Einrichtung zum
Studium der Sozialen Frage im Lichte der päpstlichen Enzyklika
»Rerum
Novarum«;
das von der »Catholic
Social Guild«
1921 gegründete, noch existierende Catholic Workers’
College (heute: Plater College) in Oxford widmete sich vor allem
sozialen und Bildungsproblemen der britischen Arbeiterschaft.
Anmerkung
Reinhard Müller.
3 D.i.
Egon
Bergel
(1894–1969). Anmerkung
Reinhard Müller.
4 Gemeint
ist das am 24. Juni 1937 von Marie Jahodas Mutter Betty
Jahoda,
geborene Propst (1881–1967), eingereichte Gnadengesuch.
Anmerkung
Reinhard Müller.
5 Michael
Skubl (Bleiburg, Kärnten 1877 – Wien 1964):
Verwaltungsbeamter; 1933 bis 1934 Polizei-Vizepräsident von
Wien und seit 1934 Generalinspizierender des österreichischen
Bundespolizeibehörden und Polizeipräsident; 1937 bis 1938
Staatssekretär für die Angelegenheiten der öffentlichen
Sicherheit.
Anmerkung
Reinhard Müller.
6 Die
Übersetzung stammt von Johannes Messner. Anmerkung
Reinhard Müller.
7 D.i.
Alexander
Farquharson
(1882–1954). Anmerkung
Reinhard Müller.
8 D.i.
Kurt (1898–1919: von) Schuschnigg (Riva,
Tirol [Italien] 1897 – Mutters,
Tirol 1977): christlichsozialer Politiker; Januar 1932 bis Oktober
1934 Justizminister, Mai 1933 bis Mai 1936 Unterrichtsminister, Juli
1934 bis März 1938 Bundesminister für Landesverteidigung;
Juli 1934 bis März 1938 Bundeskanzler; oberster Repräsentant
des Ständestaat-Regimes; 1938 bis 1945 in verschiedenen
Konzentrationslagern; 1948 Emigration in die USA, wo er bis 1967
Staatsrecht an der Universität von Saint Louis (Missouri)
lehrte; danach Rückkehr nach Österreich. Anmerkung
Reinhard Müller.
9 D.i.
Georg Franckenstein (d.i. Georg Albert Freiherr von und zu
Franckenstein; seit 1939: Sir George Franckenstein; Dresden, Sachsen
1878 – Kelsterbach, Hessen 1953): Diplomat; 1920 bis 1938
österreichischer Gesandter in London; verblieb danach als
britischer Staatsbürger in London. Anmerkung
Reinhard Müller.
10 Malines
/ Mechelen: Stadt in Belgien, Flämische Region. Das
Wiedersehen bezieht sich wohl auf die »Conversations de
Malines«, eine seit 1921 jährlich stattfindende
ökumenische Veranstaltung. Anmerkung
Reinhard Müller.
11 Die
Übersetzung stammt von Johannes Messner. Anmerkung
Reinhard Müller.
12 Auch
diese Angaben beziehen sich auf den vorhergehenden Titel, nämlich
Marie
Jahoda-Lazarsfeld: The
influence of unemployment on children and young people in
Austria,
in:
Children, young people and unemployment. A
series of enquiries into the effects of unemployment on children
and young people.
Part II. Geneva: The Save the Children International Union 1933, S.
115–135.
Anmerkung
Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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