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Protokoll über die Hauptverhandlung gegen Marie Jahoda und Marie Schneider, geborene Loibl, vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien I Wien, am 2. Juli 1937 Geschäftszahl 6aVr 10981/36 Hauptverhandlung. Landes Gericht f[ür] St[raf] S[achen] Wien I am 2.7.1937 Strafsache gegen Dr. Maria [!] Lazarsfeld und Maria [!] Schneider wegen § 5 St[aats] Sch[utz] Ges[etz] Gegenwärtig: Vorsitzender: O[ber] L[andes] G[erichts] R[at Alois] Osio1Richter: O[ber] L[andes] G[erichts] R[at] Dr. Ominger
Öffentl[icher] Ankläger: Staatsanwalt Dr. Milsky
Der Angeklagte gibt über seine persönlichen Verhältnisse an: 1) Dr. Marie Lazarsfeld, Gen. ONr. 8,unbescholten, U[ntersuchungs] H[aft] v[om] 10.3.1937 11 Uhr bis 10.6.1937 16h, d[er]z[ei]t in Polizeihaft, 2) Marie Schneider, Gen. ONr. 11, unbescholten, U[ntersuchngs] H[aft] v[om] 10.3.1937 11h bis 10.6.1937 16h Der Vorsitzende ermahnt den Angeklagten zur Aufmerksamkeit auf die vorzutragende Anklage und den Gang der Verhandlung. Die Schöffen Götzl und Schmid werden vereidigt. Die Zeugen und Sachverständigen werden vorgerufen. Der Vorsitzende erinnert sie an die Heiligkeit des von ihnen abzulegenden Eides und weist die Zeugen an, sich in das für sie bestimmte Zimmer zu begeben. (Der Vorsitzende trägt auch dem Privatbeteiligten Privatankläger auf, sich aus dem Gerichtssaale zu entfernen, und stellt ihm frei, sich bei der Verhandlung vertreten zu lassen.) Um Verabredungen oder Besprechungen der Zeugen zu verhindern, ordnet der Vorsitzende an, Der Vorsitzende verfügt, daß die Sachverständigen während der Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen im Gerichtssaale bleiben. Von den vorgeladenen Personen sind ausgeblieben: Zeugen sind nicht vorgeladen. Der Vorsitzende lässt die Anklageschrift vorlesen. Der Vorsitzende vernimmt den Angeklagten über den Inhalt der Anklage. Dr. Lazarsfeld erklärt, sie sei schuldig Schneider erklärt sie sei nicht schuldig. Der Vorsitzende eröffnet den Angeklagten, daß sie berechtigt seien, der Anklage eine zusammenhängende Erklärung des Sachverhaltes entgegenzustellen und nach Anführung jedes einzelnen Beweismittels seine Bemerkungen darüber vorzubringen. Angeklagte Dr. Maria [!] Lazarsfeld gibt an: Ich war bis zu meiner Verhaftung Leiterin der österr[eichischen] wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle und hatte als solche verschiedene, teils kaufmännische, teils wissenschaftliche Mitarbeiter. Etwa im Juli v[origen] J[ahres] wurde ich von einem Manne, mit dem ich von meiner s[einer]z[ei]t[igen] Tätigkeit bei der Bildungszentrale<05_Sozialistische_Bildungszentrale> der soz[ialdemokratischen] Partei her bekannt war aufgesucht und gebeten, aktiv in der Bewegung der Rev[olutionären] Sozialisten<05> mitzuarbeiten. Da ich ein Kind [d.i. Lotte Lazarsfeld, verheiratete Bailyn] habe und überdies beruflich sehr in Anspruch genommen wurde, war mir dies nicht möglich. Der Mann bat mich darauf, der Idee des Sozialismus wenigstens dadurch einen Dienst zu erweisen, dass ich erlaube, dass Briefe, die für ihn bestimmt seien, an meine Adresse geschickt würden; dies habe ich auch getan. Ich wusste vom vorhinein, dass es sich um Briefe handelt, die die Organisation betreffen. Es war mir auch bekannt, dass die Organisation verboten ist. Ich hielt diese Sache für nicht zu gefährlich und fühlte mich verpflichtet dies zu tun, weil es meiner sozialistischen Gesinnung entsprach. Die Briefe wurden zuerst unter meinen [!] Namen gesandt, wobei als Kennzeichen mein Vorname Mitzi als Mizzi geschrieben wurde. Späterhin vereinbarte ich, dass die Briefe nicht mehr auf meinen Namen sondern auf den Namen des nach Frankreich verzogenen Mitarbeiters Dr. Julius Klanfer geschickt wurden; ich habe nämlich dies für weniger gefährlich gehalten. Die einlangenden Briefe wurden dann von dem Bekannten selbst, den ich Erich nenne bez[iehungs]w[eise] seinem Boten, den er einmal mitgebracht hatte und den ich dadurch kennen lernte, abgeholt. Jedesmal wenn er Briefe holte, gab er mir auch Zeitungen zu Lesen [!], die ich, je nach dem ich Zeit hatte, durchlas und dann verbrannte. Ich wollte solche Zeitungen auch rasch verbrennen, als die Polizei einschritt, wurde aber daran gehindert. Erich hatte mir eines Tages auch gesagt, dass er verschiedenes Material habe, das für die Geschichte der Bewegung sehr interessant und wichtig sei, doch könne er dasselbe nicht bei sich aufbewahren, weshalb ich auf meinen Namen ein Safe bei der Länderbank mieten solle. Dies habe ich auch 14 Tage vor meiner Verhaftung getan. Damit ich nicht in seiner Abwesenheit in das Safe gehe, hat er von mir die Legitimation und einen Schlüssel hiezu verlangt, während ich den zweiten Schlüssel behalten habe. Die Jahresgebühr von 15 S[chilling] habe ich von ihm ersetzt erhalten. Ich habe zweimal in das Safe Sachen eingelegt, jedesmal hat mich Erich beim Börsepark2 getroffen und mir das Material gegeben. Da ich Bedenken hatte, dass die Sache zu gefährlich sein könnte, hat er mich versichert, dass es rein historisches Material ist und mir deshalb auch den Inhalt eines Couverts gezeigt, das nationalsozialistisches, unseren Gedankengängen also völlig fernstehendes Material enthielt. Der Vorsitzende nimmt Feststellungen hinsichtlich des bei der Angeklagten anlässlich ihrer Anhaltung vorgefundenen Materials sowie bezügl[ich] des im Safe vorgefundenen Materiales vor, welches vom Gerichte und den Parteienvertretern eingesehen wird. Er stellt ferner fest, dass nach der Anhaltung der Angeklagten noch ein an Dr. Julius Klanfer adressierter Brief einlangte; dieser Brief wird ebenfalls eingesehen. Angeklagte Maria [!] Schneider: Ich war bis zu meiner Verhaftung Bedienerin im Institut für Bildstatistik<05_Gesellschafts_und_Wirtschaftsmuseum>. Seinerzeit war ich Mitglied der soz[ialdemokratischen] Partei und Fürsorgerin. Vor einigen Jahren habe ich im Park einen Burschen kennen gelernt, von dem ich jedoch nur den Vornamen Franzl weiss. Ich begegnete ihm anfangs November v[origen] J[ahres] wieder und er fragte mich, ob ich nicht erlauben würde, dass sein Freund, der gegenwärtig im Obdachlosenheim nächtigt, durch einige Zeit an meine Adresse seine Briefe senden lassen dürfe, es werde nicht lange dauern, da er bald eine eigene Wohnung erhalten werde. Ich dachte mir, dass dies eine Gefälligkeit sei, die ich erweisen könne und erklärte mich einverstanden, sagte aber, dass die Briefe auf den Namen meines Mannes geschickt werden sollten, da im Hause eine Frau wohne, die ebenso wie ich Maria [!] Schneider heisst. Warum sich der Freund des Franzl die Post nicht in das Obdachlosenasyl kommen liess, darüber habe ich nicht nachgedacht. Meinen Mann habe ich von dieser Vereinbarung nicht in Kenntnis gesetzt, denn er kümmert sich nicht um die Post; überdies ist er Tischlermeister und kommt die für ihn bestimmte Post in die Werkstätte, während private Post überhaupt nur sehr selten kommt. Franzl muss in der Nähe des Sparkassenplatzes3 wohnen, denn ich traf ihn wiederholt dort an, wenn ich in die Bedi[e]nung ging. Er fragte mich öfters, ob Post gekommen sei und wenn etwas gekommen war, so erwartete er mich bei meinem Heimweg und folgte ich sie ihm aus. Er machte die Briefe vor mir auf, warf einen Blick hinein und sagte, dass der Brief ihm gehöre; hätte ein Brief wirklich meinem Mann gehört, so hätte er dies sicher gesagt. Er wollte die Couverts gleich wegwerfen, ich sagte aber, dass man dies nicht auf der Strasse tue und gab sie in meine Tasche. Diese habe ich im Institut ausgeleert, weil ich neues Papier einlegen wollte und so sind die Kouvert[s] in den Papierkorb gekommen. Am Tag vor meiner Verhaftung gab mir Franzl auch ein ganz kleines Packerl, das in Papier gewickelt war und bat mich, ihm dasselbe aufzuheben, er werde es sich bei nächster Gelegenheit abholen. Ich gab das Packerl in meine Geldbörse. Über seinen Inhalt habe ich mir nichts gedacht. Bezüglich der Briefe dachte ich mir anfangs, dass es sich um Liebesbriefe handle. Insgesamt sind 2 oder 3 Briefe gekommen. Über Frage des Verteidigers: Angeklagte: Verdächtig ist mir die Sache erst vorgekommen, als die Polizei einschritt. Ich hätte dies aber auch getan, wenn ich es vorher gewusst hätte, weil ich Parteimitglied war. Vert[eidiger] Dr. Bergler [recte Bergel; R.M.] bringt vor, dass die Angekl[agte] Dr. Lazarsfeld mehrere wissenschaftliche Arbeitern [!] veröffentlicht habe, auf Grund deren sie eine Berufung an eine englische Universität erhalten habe, welcher Berufung sie nach ihrer Enthaftung Folge leisten werde. Er bringt weiters vor, dass ihre Tochter ihrer (der Angeklagten) bedarf, da sowohl diese als auch die Grossmutter derselben [d.i. Betty Jahoda], bei der sie sich gegenwärtig in Pflege befindet, krank seien und legt diesbezügl[ich] 2 ärztl[iche] Zeugnisse vor. Gem[äß] § 252 vorl[etzter] Abs[atz] St[raf] P[rozeß] O[rdnung] werden die Anzeige s[iehe] Erhebungen sowie Strafkarten s[iehe] Leumund verlesen. Der Vorsitzende schliesst das Beweisverfahren. Der Staatsanwalt beantragt Schuldspruch im Sinne der schriftl[ichen] Anklage. Vert[eidiger] Dr. Bergler [recte Bergel; R.M.] beantragt milde Bestrafung nach § 17 St[aats] Sch[utz]-Ges[esetz], Vert[eidiger] Dr. Fröhlich beantragt milde Bestrafung. Der Vorsitzende schliesst die Verhandlung. Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück. Nach seinem Wiedererscheinen verkündet der Vorsitzende in öffentl[icher] Sitzung das Urteil s[amt] wesentl[ichen] Gründen und erteilt die Rechtsmittelbelehrung. Die Angeklagten erklären auf Rechtsmittel zu verzichten. Der Staatsanwalt gibt keine Erklärung ab. Ende ¾11h Der Vorsitzende:
Der Schriftführer: Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien, Landesgericht für Strafsachen Wien, Vr 10981/36.
1 Alois
Osio (Venedig 1877 –
?): Vizepräsident des Landesgerichts Wien; wurde am 1. April
1938 mit dem ersten so genannten Prominententransport ins
Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Börsepark:
Park in Wien 1., Börseplatz. Anmerkung
Reinhard Müller.
3 Recte
Sparkassaplatz in Wien 15., nahe Marie Schneiders Wohnhaus in Wien
13., Siebeneichengasse 16. Anmerkung
Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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