Anklageschrift gegen Marie Jahoda und Marie Schneider

Wien, am 28. Mai 1937

15 St 934/36-4

26 Vr 10981/36

Anklageschrift.

Die Staatsanwaltschaft Wien I erhebt gegen:

1./

Dr. Maria [!] Lazarsfeld, am 26.1.1907 in Wien geboren, dahin zust[ändig], konf[essions]l[os], getrennt, Psychologin, derzeit in Haft,

2./

Marie Schneider, am 10.5.1896 in Wien geboren, dahin zust[ändig], r[ömisch] kath[olisch], verh[eiratet], Bedienerin, derzeit in Haft,

die Anklage:

Sie haben in der Zeit von Juli bis Dezember 1936 die Organisation der revolutionären Sozialisten, somit eine Vorbindung, deren Zweck es ist, auf ungesetzliche Weise die Selbständigkeit, die verfassungsmässig festgestellte Staats- oder Regierungsform und verfassungsmässige Einrichtungen Oesterreichs zu erschüttern, unterstützt, und zwar a) Dr. Maria [!] Lazarsfeld dadurch, dass sie eine Poststelle für die revolutionären Sozialisten errichtete und bei der Zentraleuropäischen Länderbank ein Safe für die Aufbewahrung von Schriftenmaterial mietete, b) Marie Schneider dadurch, dass sie Briefe für Parteifunktionäre an ihre Anschrift senden liess, und sie weiterleitete, und dass sie Spendemarken der Unterstützungsaktion der revolutionären Sozialisten »Weihnachten im Kerker« zur Aufbewahrung und Verteilung nahm;

sie haben hiedurch

das Verbrechen nach § 5 des Gesetzesvom 11.7.1936 B[undes] G[esetz] Bl[att] N[umme]r 223 (St[aats] Sch[utz] Ges[esetz]) begangen und seien hiefür nach § 5 dieses Gesetzes zu bestrafen.

Anträge:

1./ Anordnung einer Hauptverhandlung vor dem Landesgerichte für Strafsachen Wien I als Schöffengerichte, 2./ Vorführung der gemäss §§ 175/2 und 4, 180 St[raf] P[rozess] O[rdnung] in U[ntersuchung]-Haft zu belassen

Dr. Maria [!] Lazarsfeld und

Marie Schneider

als Angeklagte, 3./ Gemäss § 252 vorl[etzter] Abs[atz] St[raf] P[rozess] O[rdnung] Verlesung der Anzeige und Polizeierhebungen O[rdungs] Z[ah]l 2 und 3, der beizuschaffenden Auskünfte des Strafregisteramtes und‘ der beizuschaffenden Leumundsschreiben.

Begründung:

Dr. Maria [!] Lazersfeld [!] war Leiterin der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der österr[eichischen] wirtschafts-psychologischen Forschungsstelle, deren Aufgabe die Durchführung markttanalythischer [!] Untersuchungen für grössere Firmen war. Der Sitz dieses Institutes befand sich in Wien I., Wächtergasse 1. Die Beschuldigte war vor dem Verbote Mitglied der soz[ial]dem[okratischen] Partei und war auch durch Abhaltung von Vorträgen in den soz[ial]dem[okratischen] Frauenvereinen parteipolitisch tätig. Ihr Bekanntenkreis setzte sich auch in der Folge durchwegs aus ehem[aligen] Mitgliedern der soz[ial]dem[okratischen] Partei zusammen, aus deren Reihen öfters Hilfesuchende, meist mit der Bitte um Beschaffung eines Postens zu ihr kamen und deren Ersuchen sie nach Möglichkeit nachkam. So kam es, dass die bei der wirtschafts-psychologischen Forschungsstelle angestellten Personen, die meist durch die Hilfe der Dr. Lazarsfeld dort ihre Anstellung gefunden hatten, fast durchwegs sozialistisch eingestellt waren und ihr gesinnungsmässig nahestanden.
Dr. Maria [!] Lazarsfeld benützte ihre leitende Stellung in diesem Institut dazu, um die in Oesterreich bestehende illegale Organisation der revolutionären Sozialisten zu unterstützen, indem sie sich im Juli 1936 gegenüber einem unbekannten Funktionär dieser Organisation bereit erklärte, in den Räumen der wirtschafts-psychologischen Forschungsstelle für seine Organisation eine sogenannte Poststelle zu errichten. Sie übernahm hiedurch die Aufgabe, die für diese Organisation bestimmten Briefe, die auf dem Umschlag die Anschrift der Forschungsstelle trugen, in Empfang zu nehmen und einem Parteifunktionär auszufolgen. Diese Tätigkeit entfaltete sie in der Zeit vom Juli bis zu ihrer im November 1936 erfolgten Verhaftung.
Auch mietete sie bei der Zentraleuropäischen Länderbank über Veranlassung eines unbekannten Parteifunktionärs ein Safe, das zur Aufbewahrung illegalen Schriftenmaterials bestimmt war. Von diesem Parteifunktionär erhielt sie auch den monatlichen Mietbetrag hiefür von 15 S[chilling].
Die Bedienerin Marie Schneider stand ebenfalls mit der Organisation der revolutionären Sozialisten in Verbindung. Sie gestattete einem unbekannten Funktionär dieser Organisation, die für diese bestimmte Post an ihre Adresse gelangen zu lassen. Die Briefe waren an den Gatten der Marie Schneider adressiert, die dann die jeweils angekommene Post dem Parteifunktionär, den sie nur mit dem Vornamen »Franzl« kennen will, ausfolgte. Von diesem erhielt sie auch 25 Winterhilfemarken der Unterstützungsaktion der rev[olutionären] Sozialisten »Weihnachten im Kerker«. Diese Marken bekommen nur verlässliche Parteigänger, die sie dann einzeln an die Spender verkaufen. Dass Marie Schneider eine verlässliche Parteigängerin war, geht aus dem Umstand hervor, dass sie schon seit dem Jahre 1918 Mitglied der soz[ial]dem[okratischen] Partei und in den Jahren 1929 bis 1934 sozialdemokratische Fürsorgerin war.
Dr. Maria [!] Lazarsfeld ist voll geständig. Maria Schneider gibt zwar zu, die Briefe und Parteimarken empfangen zu haben, behauptet aber, von der Herkunft dieser Briefe nichts gewusst zu haben, ebensowenig von dem Inhalte eines Päckchens, in dem sich die Parteimarken befanden. Sie habe dieses Päckchen 1 Tag vor der Verhaftung von »Franzl« zur Aufbewahrung bekommen. Diese Verantwortung ist unglaubwürdig. Marie Schneider hatte keinerlei Veranlassung, einem Fremden, von dem sie nur den Vornamen kannte, zu gestatten, an sie oder ihren Mann seine Post schicken zu lassen. Hätte sie daran nichts Bedenkliches gefunden, dann hätte sie diese Tatsache auch ihrem Manne nicht verschweigen dürfen. Dieser hat aber nach seiner Angabe von diesen Briefen nichts gewusst. Auch kann sie keinen Grund dafür angeben, warum sie ein Päckchen zur Aufbewahrung für einen Fremden übernommen hat. Ihre Verantwortung ist demnach hinterhältig und unglaubwürdig.

Staatsanwaltschaft Wien I,

am 28.5.1937.

Dr. Ludwig Kadečka.

Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Nachlass Marie Jahoda, Signatur 41/7.1.1, pag. 126–130. © Copyright Anfragen an das Archiv

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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