[Anonym]

Das »Postamt« der revolutionären Sozialisten1
In: Neues Wiener Abendblatt (Wien), Jg. 1937, Nr. 180 (2. Juli 1937), S. 5.

Das »Postamt« der revolutionären Sozialisten<05>.


Im Hause Wächtergasse 1 in der Innern Stadt hatte die »Oesterreichische wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« ihren Sitz. Dieses Institut befaßte sich mit der Durchführung marktanalytischer Untersuchungen für größere Industrie- und Handelsfirmen. Im Dezember vorigen Jahres wurden die Behörden aufmerksam gemacht, daß die Leiterin der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter dieses Instituts Frau Dr. Maria [recte Marie; R.M.] Lazarsfeld sich nicht nur mit Marktanalyse und den psychologischen Voraussetzungen eines geschäftlichen Erfolges, sondern auch mit reiner Politik beschäftige. Sie hatte in den Räumen der Forschungsstelle eine sogenannte Poststelle der revolutionären Sozialisten eingerichtet, die anstandslos vom Juli bis Dezember vorigen Jahres funktionierte, bis die Polizei einschritt. Es war eine großangelegte politische Razzia. Es wurden mehr als zwei Dutzend verdächtige Männer und Frauen in Haft genommen, gegen etwa hundert Personen wurde ein Verwaltungsstrafverfahren eingeleitet. Gegen Frau Dr. Lazarsfeld und die Bedienerin Marie Schneider wurde die Anklage wegen Verbrechens gegen das Staatsschutzgesetz erhoben, über die heute vor dem Schöffengericht unter Vorsitz des Oberlandesgerichtsrates [Alois] Osio verhandelt wird; die Anklage vertritt Staatsanwalt Dr. Milski.
Frau Dr. Lazarsfeld hat – so wird in der Anklage ausgeführt – nicht nur in ihrem privaten Postamt Briefe in Empfang genommen und an einen unbekannt gebliebenen Funktionär der Revolutionären Sozialisten weitergeleitet, sondern auch bei einer Großbank

ein Safe zur Aufbewahrung von Briefschaften

gemietet. Der Bedienerin Marie Schneider wird zum Vorwurf gemacht, daß sie erlaubt hatte, Briefe an ihre Adresse kommen zu lassen, und daß sie solche Briefe an einen gewissen »Franzl« weitergab.
Die Beschuldigte Lazarsfeld gibt die ihr zur Last gelegte illegalre politische Betätigung zu, Frau Schneider bestreitet, von dem Inhalt der Briefe Kenntnis gehabt zu haben.

Aus der Verhandlung.

Frau Dr. Lazarsfeld bekennt sich in ihrer Verantwortung als überzeugte Sozialistin. Ein Funktionär der revolutionären Sozialisten sei im Juli zu ihr gekommen und habe sie aufgefordert, aktiv an der Bewegung mitzuarbeiten. Dies habe sie mit Rücksicht auf ihre Beschäftigung, die sie bis zu zehn Stunden im Tag in Anspruch nahm, sowie auf ihr Kind [d.i. Lotte Lazarsfeld, verheiratete Bailyn] abgelehnt, sich aber einverstanden erklärt, daß die Briefe jenes Funktionärs, den sie Erich nennt, an ihre Adresse kommen. Erich habe ihr auch illegale Zeitschriften und Druckschriften geschickt, darunter den »Cicero«, das ist eine Anweisung, wie Illegale sich vor Gericht zu verantworten haben. Die Briefe seien zuerst an sie, dann an einen Dr. Julius Klampfer [recte Klanfer; R.M.], der für ständig aus Österreich ausgewandert ist, adressiert gewesen. Im Safe in der Großbank seien nicht Briefe, sondern für die Geschichte der Bewegung interessantes Schriftenmaterial hinterlegt worden. Näheres hierüber wisse sie nicht, sie wisse nur, daß auch Nazimaterial dabei gewesen war.
Der Vorsitzende bemerkt, daß der Erich der Frau Doktor Lazarsfeld identisch sei mit dem Franzl der zweiten Beschuldigten Frau Schneider.
Die Zweitbeschuldigte Marie Schneider blieb dabei, daß sie vom Inhalt der von ihr beförderten Korrespondenz keine Kenntnis hatte.
Das Schöffengericht verurteilte Frau Lazarsfeld zu drei Monaten, Frau Schneider zu zwei Monaten Kerker. Die Strafen sind durch die Untersuchungshaft verbüßt.

1 Der erste Teil dieses Artikels (bis: »Aus der Verhandlung...«) erschien zuerst in: Neues Wiener Tagblatt (Wien), Jg. 1937, Nr. 149 (2. Juli 1937), S. 3. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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