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Marie Jahoda Brief an Käthe Leichter in
Wien 30.9.[19]36
I. Frau L:1 Das Gespräch mit dem Erich hat folgendes Resultat gehabt: Eure2 Argumente sind unzulänglich; es liegt jenseits der Grenze unserer Verständnisfähigkeit zu begreifen, warum Ihr in vollem Bewusstsein die Sache schädigt. Trotzdem werden wir für Frau L. eine andere Arbeit finden. Grund dafür ist weniger die Angst vor der Realisierung von Euren Drohungen – was das Institut3 betrifft, so bist Du Dir wahrscheinlich selbst im klaren, dass jede Aktion von Dir gegen mich nur das Ende jeder Arbeit in Oesterreich bedeuten würde, mit viel grösserer Sicherheit als ein Unglücksfall durch die Beschäftigung der Frau L. Dir die Existenz rauben würde als das Gefühl, dass man Frau L. die Arbeit in einer solchen Atmosphäre nicht zumuten kann. Ich persönlich habe mich nur diesem Argument gefügt. II. Meine Mitarbeit: Entgegen meiner Behauptung vom Samstag, die dem Ekel über Eure Tonart entsprungen ist, werde ich die Arbeit nicht niederlegen, sondern weiterführen. Es wird also notwendig sein, eine Form der sachlichen Zusammenarbeit zu finden. III. Beiliegend ein Memorandum, das ich gestern aus New York bekam. Ich verweise Dich besonders auf den Satz von meiner administrativen Verantwortlichkeit. Es ist absolut notwendig, sofort eine Schreibkraft zu beschäftigen. Dagegen scheint mir die Anstellung von weiteren Rechercheuren vorläufig unmöglich, falls nicht im Laufe der nächsten Wochen eine dem widersprechende Antwort auf Deinen Brief aus N[ew] Y[ork] kommt. Auch falls Rechercheurinnen angestellt werden – ich persönlich hab natürlich nichts dagegen, – ist Deine Vorstellung, dass diese Rechercheurinnen Dir in Schlagworten berichten und Du dann diktierst sachlich falsch. Eine so ausführlich[e] Erhebung kann nur von dem Recherchenten diktiert werden, weil sonst vielzuviel Ungenauigkeiten und Verfälschungen der Atmosphäre hinein kommen würden. Es wird also doch notwendig sein, der Schreibkraft einen Raum zur Verfügung zu stellen. Ich schlag nach wie vor die Forschungsstelle vor. selbstverständlich [!] soll die Schreibkraft so oft es nötig ist, zu Dir hinauskommen. Als Schreibkraft schlage ich Dir demnächst einen nach jeder Hinsicht einwandfrei[en] Menschen vor; ich verschiebe die Diskussion darüber auf ein Gespräch. IV. Zur Arbeit: Ich sende Dir anbei eine Recherche von L[udwig] W[agner] mit meinen Korrekturen. Ich werde diesen Freitag mit ihm gemeinsam eine Recherche durchführen, um seine Verwendbarkeit und Verlässlichkeit an Ort und Stelle zu überprüfen. Ferner findest Du einen Vorschlag zur Bogenveränderung in der Beilage. Ich verspreche mir von der Kleideraktion – eine Idee von L[udwig] W[agner] – eine grosse Erleichterung der Arbeit. V. M[ada]me [Juliette] Favez4 hat mir für die ersten Spesen, die uns ihrer Meinung nach gewiss schon entstanden sind, einen Betrag von 200 S[chilling] überwiesen. Ich verwende davon zunächst 100.– S[chilling] als Vorschuss an L[udwig] W[agner], dem ich mitgeteilt habe, dass ich nicht in der Lage bin, im Definitives über sein Honorar zu sagen, weil die Verhandlungen, ob Fallweise oder monatliche Bezahlung für ihn, noch in Schwebe sind. Da ja auch Du seine Verwendung als selbstverständlich voraussetzt (Brief an Paul [Lazarsfeld]) scheint dem nichts zu widersprechen. Der Rest steht Dir natürlich für alle Spesen dauernd zur Verfügung. Ich werde einen Teil davon für Anschaffung von Papier und eine vorläufige Schreibkraft brauchen, die die 4 Recherchen von L[udwig] W[agner] kopiert, damit ich sie nebst den Korrekturen nach Amerika senden kann. Ich bitte Dich, mir seine Recherchen zu retournieren und einen Durchschlag von Deinen zu schicken. Ich halte es für notwendig, dass die Zeit, die noch bis zur Antwort aus Amerika auf Deinen Brief vergehen wird, nicht unausgenützt bleibt. L[udwig] W[agner] macht keine neuen Recherchen, sondern wird durch zweite Besuche seine alten verbessern. Daneben wird es wohl nötig sein, dass wir uns nächste Woche zu einer Besprechung zusammensetzen. Tagesordnung: 1. Sekretärin, 2. Bogenverbesserung 3. Rechercheverbesserung 4. Organisierung der Kleideraktion 5. Festlegung von fixen gemeinsamen Arbeitszeiten. Ich schlage vor, dass wir einen Nachmittag in der Woche bestimmen, an dem wir regelmässig über die Arbeit reden. Dazu ist notwendig, dass Du mir dauernd das von Dir erhobene Material im Durchschlag durch die Sekretärin schickst. Ich erwarte Deinen Anruf, Besuch oder Brief.
Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien, Landesgericht für Strafsachen Wien, Vr 10981/36.
1 Frau
L.: das ist die Wiener Stenotypistin Wilhelmine Lettner, geborene
Reiter. Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Laut
Marie Jahoda bezieht sich das »Eure« auf das Ehepaar
Käthe Leichter und Otto Leichter (Wien 1897 – New York
City, New York 1973): Publizist, Journalist und sozialdemokratischer
Politiker; maßgeblich an der illegalen Presse der
»Revolutionären
Sozialisten Österreichs<05>«
(RSÖ) beteiligt; emigrierte 1938 nach Frankreich und 1940 in
die USA; seit 1921 mit Käthe
Pick
verheiratet. Anmerkung
Reinhard Müller.
3 Gemeint
ist das »Institut
für Sozialforschung«.
Anmerkung
Reinhard Müller.
4 Juliette
Favez: administrative Leiterin der Filiale in Genf des »Instituts
für Sozialforschung«.
Anmerkung
Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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