[Anonym]

Die Polizei verhaftet ein Forschungsinstitut
In: Arbeiter-Zeitung [Brünn (Brno)], 4. Jg., Nr. 1 (6. Januar 1937), S. 11–12.

S. 11

Die Polizei verhaftet ein Forschungsinstitut.
Die Wiener Polizei hat vor kurzem alle Angestellten des »Wirtschaftspsychologischen Forschungsinstituts« verhaftet. Das Institut, vor Jahren von Dr. Paul Lazarsfeld, der später eine Berufung als Professor an eine amerikanische Universität angenommen hat, begründet, betrieb vornehmlich Marktanalyse nach amerikanischem Vorbild. Seitdem sein Gründer Wien verlassen hat, wurde es von Dr. Marie Jahoda geleitet, einer jungen Gelehrten, die durch ihre ausgezeichnete, auch in fremde Sprachen

S. 12

übersetzte sozialpsychologische Studie über die Arbeitslosen von Marienthal in Fachkreisen bekannt geworden ist. Die Polizei behauptet nun, bei der Leiterin des Instituts und bei einem oder einer seiner Angestellten Material gefunden zu haben, das beweise, daß diese Angestellten des Instituts an der Bewegung der Revolutionären Sozialisten teilgenommen hätten. Aus diesem Grunde hat die Polizei gleich alle Angestellten des Instituts verhaftet – auch solche, die mit der sozialistischen Bewegung überhaupt nie etwas zu tun gehabt haben – und das Institut gesperrt. Sie mußte allerdings einen Teil der Verhafteten schon auf freien Fuß setzen. Zugleich ließ aber die Polizei in den Zeitungen ausschreien, sie habe in dem Institut die »Nachrichtenstelle« der R[evolutionären] S[ozialisten] entdeckt. Darüber schreibt der »Informations- und Nachrichtendienst« der Revolutionären Sozialisten:
»Die Staatspolizei hat uns überrascht! Nicht durch ihr Erscheinen bei einer Besprechung, nicht durch ihre Hinzukunft beim Matrizenschreiben oder Abziehen unseres ›Informations- und Nachrichtendienstes‹, sondern auf eine viel vorzüglichere und harmlose Weise: Sie läßt uns durch die Wiener Tagespresse mitteilen, daß sie uns erwischt hat! Es war für uns und für die Empfänger unseres Informations- und Nachrichtendienstes eine jener sonderbaren Überraschungen, die zu den erfreulicheren Erlebnissen der illegalen Arbeit gehören. Das Vergnügen war dabei größer bei den aktiven Genossen des ›Nachrichtendienstes‹ als bei den Empfängern: Es ist eben ein intensiveres Erlebnis, beim Schreiben des ›Nachrichtendienstes‹, beim Abziehen, Austragen oder Versenden zu erfahren, daß man hochgegangen ist, als es für den Empfänger des ›Nachrichtendienstes‹ ist, zusammen mit der Nachricht von seinem Hochgehen die laufende Nummer zu erhalten.
Unser ›Nachrichtendienst‹ erscheint nun seit ungefähr zweieinhalb Jahren regelmäßig jede Woche und in gelegentlichen Sonderausgaben. Trotz der Schwierigkeiten, mit denen heute bei der Herstellung und Verbreitung gekämpft werden muß, ist im Erscheinen des ›Nachrichtendienstes‹ während der ganzen Zeit nicht eine einzige Unterbrechung eingetreten. Es kommt uns nicht darauf an, uns dessen zu rühmen; das Prahlen überlassen wir der Polizei; wir wissen sehr gut, daß es bei den heutigen scharfen Überwachungsmethoden und bei dem Umfang unserer Arbeit keine absolute Sicherheit vor dem Zugriff der Polizei gibt. Mit um so größerem Nachdruck dürfen wir bei dieser Gelegenheit diese erfreuliche Tatsache unterstreichen: Sie haben uns bisher nicht ein einzigesmal am Erscheinen zu verhindern vermocht. Im letzten Jahr haben wir außerdem Umfang und Auflage des Informations- und Nachrichtendienstes verdoppelt.
Die Schwindelnachricht vom Ausbeben der ›Nachrichtenzentrale der Revolutionären Sozialisten‹ zeigt uns übrigens, wie sehr dem Regime unser ›Nachrichtendienst‹ auf die Nerven geht und was es unbedingt von seiner Polizei haben möchte. Nun, wir werden auf der Hut sein, mehr noch als wir es bisher waren. Wir werden aber außerdem gerade aus diesem Anlaß darangehen, diese eine von unseren Waffen zu schärfen. Wir werden unseren ›Nachrichtendienst‹ noch mehr ausbauen.«

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

VERFOLGUNG & VERTREIBUNG
Verhaftung
Pressereaktionen
Beschlagnahmungen
Vernehmungen
unheimliche Heiterkeit
schreckliche Bilder
5. Jänner 1937
Polizeibericht 1
Polizeibericht 2
Haftbedingungen
Gedichte aus der Haft
Erfahrungen aus der Haft
Brief an Horkheimer
internat. Fürsprache
abgelehntes Gnadengesuch
Anklage
Hauptverhandlung
Urteil
politische Intervention
Vertreibung