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[Anonym] Zwei Polizeistrafen und in das
Landesgericht eingeliefert Als die Polizei vor vier Monaten die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle schloß und etwa 30 Mitarbeiter verhaftete, meldete sie, daß es sich um eine wichtige, groß angelegte illegale Organisation der R[evolutionären] S[ozialisten] handle und triumphierte über den Fang, den sie getan. Es stellte sich aber bald heraus, daß den meisten der Verhafteten trotz größtem Eifer der Polizei absolut nichts zur Last gelegt werden konnte und so mußten schließlich die meisten entlassen werden. Vier Leute behielt die Polizei zurück. Über Frau Dr. Marie Jahoda wurden für die ersten drei Monate Anhalte verhängt, dann bekam sie noch sechs Monate Polizeistrafe und wurde inzwischen auch in das Landesgericht eingeliefert. Ob man ihr die bereits abgesessenen drei Monate Anhalte in die Polizeistrafe einrechnet, wird sich erst zeigen. In dem Bescheid der Polizei heißt es, daß bei Frau Dr. Jahoda auch Material über die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft gefunden wurde. Es ist wohl in Österreich schon strafbar, wenn man sich zu wissenschaftlichen Zwecken mit solchen Fragen beschäftigt. Ing. Fritz Jahnel, Angestellter des Instituts für Bildstatistik wurde verhaftet, weil er gerade in dem Augenblick die Forschungsstelle besuchte, als die Polizeirazzia stattfand. Obwohl nichts gegen ihn vorliegt, erhielt auch er drei Monate Anhalte, weiterhin vier Monate Polizeiarrest und wurde ebenfalls dem Landesgericht überstellt. – Die Bedienerin des Instituts für Bildstatistik, Frau [Marie] Schneider, Mutter von drei unmündigen Kindern, die keinerlei Beziehungen zur Forschungsstelle hatte, wurde nach drei Monaten Haft aus der Rossauerlände1 ebenfalls in das Landesgericht eingeliefert. – Franz Kaller,2 der weder in der Forschungsstelle angetroffen, noch irgendwie mit ihr im Zusammenhang steht, saß drei Monate auf der Rossauerlände und befindet sich nun gleichfalls im Landesgericht. Von den mehr als 30 Verhafteten sind also nur die vier Opfer übriggeblieben. Aber es scheint, daß sich die Polizei für die Enttäuschung, daß es sich um einen nicht ganz großen Fall handelt, an ihnen rächen will; denn ihr genügen nicht die Polizeistrafen, sie hat auch noch die Untersuchungshaft im Landesgericht über die vier verhängen lassen.
1 Roßauer
Lände: Straße in Wien 9., wo sich noch heute Nr. 5–9
das Polizeigebäude befindet, in welchem auch Marie Jahoda in
Haft war. Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Recte
Fritz Keller. Anmerkung
Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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