Georg Oswald
Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Bozen, Innsbruck, Wien: Studienverlag 2008, 424 S. 39,90 Euro
in: campus. Das Magazin für Universitäten, FH und Forschungseinrichtungen (Wien), 60. Jg., Nr. 7 ([Oktober] 2008), S. 20.
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Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Bozen, Innsbruck, Wien: Studienverlag 2008, 424 S. 39,90 Euro
Stößt man unvorbereitet auf den Namen Grammatneusiedl [!], so entstehen in unseren Köpfen möglicherweise Assoziationen mit einer gewissen Provinzialität und Rückständigkeit, der Klang eines Ortes jedenfalls, der auch gut in [Gerhard] Bronner / Qualtingers »Bundesbahnblues« gepasst hätte. Bei Marienthal, der zur Marktgemeinde Grammatneusiedl [!] gehörigen Siedlung, ist das ganz anders. Die sozialwissenschaftliche Studie, die diesen Siedlungsnamen in ihren Titel aufgenommen hat, ist zum Mythos geworden, zum »weltweiten Klassiker der Empirischen Sozialforschung« (S. 13), wie der vielleicht profundeste Kenner der historischen und organisatorischen Hintergründe dieser Studie, Reinhard Müller, in seinem umfangreichen Materialband festhält. Und dass die Studie über die Fachgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erlangte, verdankt sie nicht zuletzt der Tatsache, dass Marie Jahodas Schreibstil bis heute so weit zu beeindrucken vermag, dass die Marienthal-Studie sogar in literarische Österreich-Anthologien Eingang gefunden hat.
Der Soziologe und Philosoph Reinhard Müller strukturiert seine Annäherung an dieses große Forschungsvorhaben der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in drei große Blöcke, in die »Geschichte Marienthals im Umfeld Grammatneusiedels [!]«, in die »Marienthal-Studie« und fügt schließlich noch die »Erinnerungen an Marienthal« an. Der historische Teil setzt bei den frühesten schriftlichen Quellen und Aufzeichnungen ein und begleitet die Siedlungsgeschichte durch die Zeit der Türkenbelagerungen, Reformation und Kurruzen bis zur Gründung der ersten Textilfabrik in Marienthal im Jahr 1820. Die Entwicklung der Textilfabrik mit ihren wechselnden Besitzern erfährt besondere Beachtung. Es spricht für den behutsamen Archivforscher, wenn er Leerstellen nicht mit eigenen Interpretationen zu schließen versucht: »Welches die tatsächlichen Gründe für die Schließung der Textilfabrik Marienthal waren, lässt sich mangels Unterlagen nicht eindeutig klären. Fest steht, dass der Zusammenbruch der ›Neuen Wiener Bankgesellschaft Aktiengesellschaft‹ im Zuge der Wirtschaftskrise wesentlich den Ruin der ›Vereinigten österreichischen Textil-Industrie Mautner Aktiengesellschaft‹ bewirkte.« (S. 151) Nach Investitionen erlangte der Mitarbeiterstand der Textilfabrik im Jänner 1929 seinen Höchststand, um noch im Frühjahr desselben Jahres bis zum Februar 1930 in ihr völliges Aus zu schlittern. 1290 Arbeiter und Angestellte standen auf der Straße.
Den Anstoß zu einer Studie über Arbeitslosigkeit erhielten die ForscherInnen von Otto Bauer, der diese auf die Situation in Marienthal aufmerksam machte. Als Leiter des Forschungsvorhabens fungierte Paul Felix Lazarsfeld, der Initiator der »Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«, eine Einrichtung, die zunächst mit dem Psychologischen Institut der Universität Wien (Charlotte und Karl Bühler) verbunden war, sich später nicht mehr als Verein, sondern als Gesellschaft nach Bürgerlichem Recht neu organisierte, »wodurch die erste außeruniversitäre, rein privatwirtschaftliche sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtung Österreichs geschaffen wurde« (S. 299). Die »Rockefeller Foundation« beteiligte sich finanziell an dem Vorhaben. Eine weitere Rolle scheinen offensichtlich die Sozialreportagen von Ludwig Wagner gespielt zu haben, auch wenn sich die an der Studie Beteiligten dezidiert von der Rolle eines Reporters distanzierten und mit Beratungsangeboten ein vollkommen anderes Verhältnis zu ihren Studienobjekten aufbauen wollten.
Mit dem Projektteam werden für gewöhnlich drei Namen verbunden: Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel. Ein Verdienst der umfangreichen Materialsammlung ist es, die weiteren an dem Projekt beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzusprechen, auch wenn von den neun Forscherinnen und sechs Forschern zum Teil nicht mehr rekonstruierbar ist als lediglich der Name (im Fall von Elfriede Guttenberg) oder sich Bruchlinien nachzeichnen lassen (wie im Fall von Lotte Schenk-Danzinger, die den Großteil der Feldforschung vor Ort leitete und nicht emigrieren musste). Eine nützliche Ergänzung zur Buchveröffentlichung ist die begleitende Website unter agso.uni-graz.at/archive/marienthal/index.htm. Hier finden sich weiterführende Literatur, Materialsammlungen und gescannte Originalbriefe aus den 80er Jahren von Marie Jahoda an den Grazer Soziologen Christian Fleck, der sich mit einer Verortung der Marienthal-Studie innerhalb der österreichischen Soziologie habilitierte. Als Paradox erscheint sein Aufsatz »Die Polizei beobachtet die Sozialforscher, die die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit beobachten« im Newsletter (Nr. 16) des »Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich«, der Dokumente kommentiert, in denen zur Zeit der Ersten Republik das Unbehagen der Polizei angesichts sozialwissenschaftlicher Forschungen zum Ausdruck kommt. Nicht all zu lange vor Erscheinen dieses Beitrags sollte der Autor selbst zum Gegenstand polizeilichen Interesses werden, als er zusammen mit der Kulturwissenschafterin Elisabeth Katschnig-Fasch eine studentische Forschungsgruppe leitete, die Spuren der slowenischen Bevölkerung im steirischen Grenzgebiet zum damaligen Jugoslawien untersuchte.
Reinhard Müller zeichnet in seinem Buch nicht nur die Vorgeschichte der Studie nach, sondern geht auch der Rezeptionsgeschichte und den Folgeprojekten, die Jahrzehnte danach entstanden sind, nach.
Erst durch die Neuausgabe 1960 erlangte die Veröffentlichung einen größeren Leserkreis im deutschsprachigen Raum. Die Erstausgabe im Juni 1933, für die der Leipziger »Verlag von S. Hierzl [!]« vorsichtshalber die jüdisch klingenden Autorennamen vom Cover verschwinden ließ, wurde bald vom Verlag selbst eingestampft. Die Breitenwirkung setzte erst 1971 mit der Veröffentlichung der englischen Übersetzung ein. Durch Müllers Hintergrundinformationen erschließt sich den interessierten LeserInnen so manches, was eine spannende Lektüre noch spannender werden lässt.
Georg Oswald