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Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle
Wien 1931
bis 1935
Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen
Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle
Wien 1935 bis 1937
Projektträger der
Marienthal-Studie war die »Österreichische
Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« – meist nur kurz als
»Forschungsstelle« bezeichnet –, deren konzeptionelle Anfänge in die
späten 1920er Jahre zurückreichen. Tatsächlich gegründet wurde sie erst
am 27. Oktober 1931 als »Sozialpsychologischer Verein«, dessen Name
bereits bei seiner Konstituierung in »Österreichische
Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« geändert und im Allgemeinen
nur »Wirtschaftspsychologische
Forschungsstelle«
genannt wurde. Initiator der zunächst mit dem Psychologischen Institut
der Universität Wien assoziierten Einrichtung war
Paul Felix Lazarsfeld
(1901–1976). Dieser war damals ein durch die »Rockefeller
Foundation« finanzierter Assistent bei
Karl Bühler (1879–1963) und
dessen Ehefrau
Charlotte Bühler
(1893–1974). Präsident der als Verein gegründeten Forschungsstelle war
Karl Bühler. Ihm zur Seite stand ein prominent besetztes Präsidium:
●
Bundeskanzler außer Dienst Ernst Streeruwitz (1874–1952), Präsident
der Kammer für Handel und Gewerbe;
● Hofrat Dr. jur. Edmund Palla (1885–1967), Generalsekretär der
Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien
und Niederösterreich;
●
Hofrat Dr. jur. Rudolf Winter (1878–1934), Generalsekretär der
Niederösterreichischen Landwirtschaftskammer.
Des weiteren gab es ein Kuratorium, dem laut erstem Werbeprospekt (»Verein
Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle«)
unter anderem die Nationalökonomen Ferdinand (bis 1919: Graf von)
Degenfeld-Schonburg (1882–1952), Josef Gruntzel (1866–1934), Benedikt
Kautsky (1894–1960), Ludwig (bis 1919: Edler von) Mises (1881–1973),
Oskar Morgenstern (1902–1977), Siegfried Strakosch (1913–1919: Edler von
Feldringen; 1867–1933) und Richard Strigl (1891–1985) angehörten,
weiters der Psychiater und Neurologe Otto Pötzl (1877–1962) sowie der
Arbeitspsychologe und Psychotechniker Karl Hackl (1889–1958). Auch die
Wirtschaft war durch bekannte Persönlichkeiten vertreten, etwa durch den
Textilindustriellen Bernhard Altmann (1888–1960), den Generaldirektor
der »Hanf-, Jute- und Textil-Industrie Aktiengesellschaft« Ernst Geiringer (1888–1956), den Inhaber des bekannten Wiener Warenhauses Paul
Gerngroß (1880–1954), den Generaldirektor der »Delka Aktiengesellschaft« Ludwig Klausner (1885–1964), den
Lebensmittel-Konzerndirektor Manfred Mautner-Markhof (1903–1981), den
Großindustriellen und Direktor der »Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft« Hermann
Oppenheim (1878–?), den Generaldirektor
der »Julius Meinl Aktiengesellschaft« Kurt Schechner (1884–1977)
und den Generaldirektor der »Phönix und Wiener Vereinigten
Versicherungs-Gesellschaften« Georg Schlesinger (1880–1952).
Untergebracht war die Forschungsstelle zunächst in Wien 1.,
Wallnerstraße 8, dann in Wien 1., Wächtergasse 1.
Tatsächlicher Leiter der »Österreichischen Wirtschaftpsychologischen
Forschungsstelle« war bis zu seiner Abreise in die Vereinigten Staaten
von Amerika 1933
Paul F. Lazarsfeld.
Als offizielle Leiterin des Büros fungierte allerdings die
Staatswissenschaftlerin Lotte Radermacher (1907–?). Im Sekretariat waren
als Kassiererin deren Mutter Louise Ottilie »Lilli« Radermacher
(1885–1962) tätig, als
Schriftführerin die Juristin und spätere Soziologin
Gertrude Wagner (1907–1992) und
als leitender Sekretär
Hans Zeisel
(1905–1992). Dies war der Stab der Forschungsstelle zum Zeitpunkt der
Marienthal-Studie.
Die
»Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« war später einschneidenden
Wandlungen unterworfen. Nach dem Weggang von
Paul F. Lazarsfeld im September 1933 übernahm
Hans Zeisel interimistisch die
wissenschaftliche Leitung, bis er selbst im Januar 1934 in die
Privatwirtschaft wechselte. Nun teilten sich die wissenschaftliche
Leitung die damalige (allerdings im November 1934 entlassene)
Aushilfslehrerin und sozialdemokratische Aktivistin
Marie Jahoda
(1907–2001) sowie
Gertrude Wagner,
während die kommerzielle Abteilung vom schweizerischen Unternehmer Leo
Gold, seit Dezember 1934 vom Wiener Kaufmann, Werbefachmann und
Marktanalytiker Heinrich Faludi (1883–?) geleitet wurde. Organisatorisch kam es zu einer
zunehmenden Absetzbewegung vom Psychologischen Institut der Universität
Wien.
Der Verein
»Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« löste sich im Januar 1935
freiwillig auf. Stattdessen gründete man – wohl auf Initiative von
Marie Jahoda – im Februar oder
März 1935 die »Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen
Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«, jedoch nicht mehr als
Verein, sondern als Gesellschaft nach Bürgerlichem Recht.
Wissenschaftliche Leiterin war nunmehr allein Marie Jahoda. Zu den fixen
Mitarbeitern gehörten Gertrude Kral (1902–1988), Theodor Neumann (1908–1970),
Hedwig Weil (1899–?), »Liesl« Elisabeth Zerner (1905–1986) – die Schwägerin von
Paul F. Lazarsfeld –, ab 1936
Julius (seit dem Exil: Jules) Klanfer (1909–1967) und die Volontärin
Frieda Goldman. Die kommerzielle Leitung hatte weiterhin Heinrich Faludi
inne, zu dessen Mitarbeiterinnen seine Nichte Susanne Faludi sowie
Cäcilia Herma und Rita Raudnitz zählten.
Marie
Jahoda, die im November 1936 als Aktivistin der illegalen
»Revolutionären Sozialisten Österreichs« (RSÖ) verhaftet wurde, blieb
formal bis Januar 1937 Leiterin. Kurz darauf, im März, wurde die
Forschungsstelle offiziell geschlossen.
Das
Bemerkenswerte an der
»Arbeitsgemeinschaft
der Mitarbeiter der
Österreichischen
Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«
ist wohl die vollständige Loslösung vom Psychologischen Institut der
Universität Wien, wodurch die erste außeruniversitäre, rein
privatwirtschaftliche sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtung
Österreichs geschaffen wurde.
Die
Forschungsstelle beschäftigte bis zu 160 Rechercheure, darunter später
bekannte Persönlichkeiten wie die zweite Ehefrau Paul F. Lazarsfelds,
die Sozialwissenschaftlerin Herta Massing-Herzog (geborene Herzog; 1910–2010), den späteren Werbefachmann und Marktforscher Ernest Dichter
(1907–1991), die Sozialpädagogin, Fürsorgerin und Schriftstellerin
Elisabeth Schilder (1904–1983), den späteren Rechtsanwalt Joseph Thorvald Simon (d.i. Joseph Theodor Simon; 1912–1976) und die
Schriftstellerin Hilde Spiel (1911–1990).
Die
Forschungsstelle betrachtete Marie Jahoda später als »eine ganz
einzigartige und ganz wienerische Erfindung«.*)
Deren Auftraggeber kamen meist aus der Privatwirtschaft oder waren
Kommunen: Ankerbrotwerke, Schuhfirma Bally, Budapester
Fremdenverkehrsbüro, Schuh- und Strumpffirma Delka, Waschanstaltsfirma
Habsburg, Schreibgerätefirma Hardtmuth, Warenhaus Herzmansky,
Kleidungs(versand)firma Jelmoli, Strickwarenfirma Kessler,
Lebensmittelfabrik Mautner Markhof, Kaffeefirma und Lebensmittelkette
Julius Meinl, Seidenhaus Miller, Kaffeefirma Titze und so weiter. Bei
den Aufträgen handelte es sich überwiegend um (insgesamt etwa zwanzig)
marktanalytische Untersuchungen,
die einem Generalschema
folgten und deren Befragungsergebnisse vielfach miteinander in Beziehung
gesetzt sowie von so genannten Verkaufs- und
Konsumbarometern begleitet wurden. Vor dem
sozialistischen Hintergrund der meisten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
der Forschungsstelle mag es verwundern, dass ihre Arbeiten vor allem der
Konsumsteigerung und damit einem wichtigen Ziel des Kapitalismus
dienten. Daneben gab es aber auch (teils unentgeltliche) Studien, in
denen der sozialdemokratische Hintergrund des Forschungsstelleteams zum
Tragen kam, etwa über das Bildungsniveau der Großstädter oder den
Lebensstandard der Wiener Bettler. In diese Kategorie fällt auch das
Projekt über die erste Wiener Stadtrandsiedlung, die
Erwerbslosensiedlung Leopoldau
für
Ausgesteuerte, in
welches offensichtlich Erfahrungen aus der Marienthal-Studie
eingeflossen sind (siehe auch die Anweisung für
die Hausbesuche und den
Bericht von
Marie Jahoda). Die berühmteste Arbeit
der »Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle« ist
aber zweifelsohne die
Marienthal-Studie aus den Jahren 1931 und 1932.

Texte der
»Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle« und über
sie auf
dieser Website
● [Lazarsfeld,
Paul Felix]: Verein Österreichische Wirtschaftspsychologische
Forschungsstelle. [Wien: Österreichische Wirtschaftspsychologische
Forschungsstelle 1931], unpaginiert (4 S.).

● [Lazarsfeld,
Paul Felix & Jahoda, Marie]: Anweisung für Marienthal. [Wien 1931], 2 S.; Maschinenschrift.

● [Jahoda,
Marie]: Die Stadtrandsiedlung Leopoldau. Ein Vorschlag der
Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle. [Wien 1933], II, 14 S.;
Maschinenschrift.

● [Jahoda,
Marie]: Anweisung für die Hausbesuche in den alten Wohnungen der
Siedler. [Wien 1934], 4 S.; Maschinenschrift.

● M.J.
[d.i. Marie Jahoda]: Stadtrandsiedlung Leopoldau. Bericht 1. 5.II.34.
[Fragment]. [Wien], am 5. Februar 1934, unpaginiert (1 S.);
Maschinenschrift.

● [Anonym]:
Generalschema.
[Wien 1931/35], 4 S.; Maschinenschrift.

● [Anonym]:
Verkaufs- und Konsumbarometer.
[Wien] 1935, 9 S.;
Maschinenschrift.

● [Anonym]:
Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle. Wir haben untersucht. [Wien
um 1934], unpaginiert (1 S.).

● [Anonym:
Logo der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle.
Wien 1935], unpaginiert (1 S.).

● Torberg, Friedrich (1908–1971):
Die Tante Jolesch
oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten.
[München]: Langen Müller
1975, S. 61.

_____________
*) Mathias
Greffrath: »Ich habe die Welt nicht verändert.« Gespräch mit Marie
Jahoda, in: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten
Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Greffrath. Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt 1979 (= das neue buch. 123.), S. 103–144, hier
S. 118.
© Reinhard Müller
Stand: August 2011
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