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Kriminalpolizeiliches Vernehmungsprotokoll Marie Jahodas Wien, am 11. Dezember 1936 Niederschrift fortgesetzt am 11. Dezember 1936 um 20 Uhr 15 bei der Bund[es] Pol[izei] Di[rekti]on, Wien mit Dr. Maria Lazarsfeld-Jahoda, Nationale im Akt, welche über Befragen angibt:Vor ungef[ähr] einem ¾ Jahr habe ich die Spanische Zeitung »El Socialista«1 abonniert, und zwar unter meinem Namen Mitzi Jahoda. Diese Zeitung wurde mir aber merkwürdigerweise unter dem Namen Fritzi zugeschickt. Dr. Klanfer Julius, XX., Rauscherstrasse, Nummer unbekannt, wohnhaft gewesen, kenne ich seit ungef[ähr] 15 Jahren, von der Mittel- und Hochschule. Ungef[ähr] im Mai 1936 ersuchte mich Dr. Klanfer, dass ich ihm gestatte, die Methode der Forschungsstelle kennen zu lernen, und wurde er zu Arbeiten herangezogen und nach Stunden entlohnt. Als Rechercheur wurde er nicht verwendet. Ungef[ähr] Ende August 1936 erschien der Bruder des Dr. Klanfer in Wien und vereinbarte mit ihm dass er während der Dauer eines Jahres sich auf Reisen begeben könne, Kosten werde er zahlen. Der Bruder des Dr. Klanfer ist Chemiker in einem Industriekonzern in einem Nachfolgestaat. Näheres ist mir hierüber nicht bekannt. Dr. Klanfer begab sich nach Strassburg, derzeit hält er sich in Paris, Boulevard S[ain]t Michael [recte Boulevard Saint-Michel; R.M.], glaublich Nr. 125 auf. Dr. Klanfer stand während seiner Abwesenheit mit mir, Frau Dr. [Hedwig] Weil2 und Herrn Dr. [Theodor] Neumann3 in Korrespondenz. Der Inhalt der Schreiben bezog sich auf rein persönliche Angelegenheiten. Soweit mir bekannt ist, steht Dr. Klanfer auch mit Dr. Spitzer in Verbindung. Näheres ist mir aber diesbezüglich nicht bekannt. Zu dem Brief mit der Anschrift »Herrn Dr. Julius Klanfer, wirtschaftspsychologische Forschungsstelle, Wien I., Wächtergasse 1«: Vor ungef[ähr] einem ¾ Jahr trat ein Mann, der vor der Verbotszeit Bezirksleiter einer Unterrichtsorganisation war, an mich mit der Bitte heran, an der illegalen Bewegung des, R[evolutionären] S[ozialisten] mitzuarbeiten. Da dieser Vorschlag auf größerer Basis aufgebaut war, lehnte ich ab. Nach meiner Ablehnung ersuchte er mich, wenigstens zu gestatten, dass Briefe, die man nicht an den richtigen Adressaten senden könne, an mich unter Adresse Forschungsstelle gesandt werden dürfen und dass ich dann diese Briefe ihm ausfolgen solle. Er begründete diese Bitte damit, dass die revolut[ionären] Sozialisten zu wenig Stellen hätten, wo derartige Briefe hingesandt werden könnten. Dazu gab ich meine Einwilligung und kamen dann in der Folgezeit einmal im Monat ungef[ähr] derartige Schreiben, die sich der Mann bis August 1936 selbst abholte, später liess er die Briefe durch einen mir nicht bekannten Mann abholen. Zu der Zeit als die Briefe durch den mir unbekannten Boten abgeholt wurden, seit August 1936, vereinbarte ich mit dem ehemaligen soz[ial]dem[okratischen] Funktionär, dass die Briefe an Dr. Julius Klanfer gerichtet werden, unter Adresse Forschungsstelle. Dies deshalb, weil dieser Funktionär meinte, es wäre für mich persönlich unter Umständen zu gefährlich. Über Vorhalt: Ich habe trotz Nichtöffnens die Briefe doch erkannt, weil ich mit dem Mann vereinbart hatte, dass bei der Anschrift mein Vorname ( Mitzi) mit zwei zz statt mit tz geschrieben werde. Den Namen des ehemaligen soz[ial]dem[okratischen] Funktionär [!], wie auch nähere Angaben, die gegebenenfalls zu seiner Ermittlung führen könnten, verweigere ich anzugeben bez[iehungs]w[eise] zu machen. Der Bote selbst, der dann später kam, ist mir tatsächlich unbekannt. Von diesem Boten habe ich auch gelegentlich derartiges Material der revolut[ionären] Sozialisten erhalten, wie es bei mir vorgefunden wurde. Ich will nochmals ausdrücklich betonen, dass die übrigen Mitarbeiter der Forschungsstelle mit der ganzen Sache nichts zu tun haben, sondern dass ich das Institut missbraucht habe. Beendet um 21 Uhr 15 V[erstanden,] g[elesen und] g[ezeichnet]
cm. Dr. Stegerwald. m.p.
Dr. Maria Jahoda-Lazarsfeld m.p. Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien, Landesgericht für Strafsachen Wien, Vr 10981/36.
1 El
Socialista.
Organo del Partido Obrero
(Madrid), 1.–54. Jg.
(1886–1939); wichtiges Organ des spanischen Sozialismus.
Anmerkung Reinhard Müller.
2 Hedwig
Weil (Wien 1899 – ?): Wirtschaftspsychologin, Mitglied der
»Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen
Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«. Anmerkung
Reinhard Müller.
3 Theodor
Neumann (Wien 1908 – ?): Jurist, Mitglied der
»(Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der) Österreichischen
Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«.
Anmerkung Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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