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Ansichten zur Arbeit

Ö1 / ORF, 6. Juli 2011, 7h52 bis 8h00

Gestaltung: Franziska Dorau.

Leporello

Ansichten zur Arbeit

[Reinhard Müller] Es ist ein Bild, das anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Marienthaler Aktiengesellschaft gemalt wurde, 1914, und ist das einzige Bilddokument, das das gesamte Marienthal zeigt: sowohl die Fabrik wie auch die Arbeiterkolonie. Von der Fabrik selbst ist praktisch nichts mehr erhalten. Das hängt damit zusammen, das die Fabrik einen Tag vor der Befreiung durch die Rote Armee im April 45 von Soldaten der Deutschen Wehrmacht niedergebrannt wurde.

[Markus Moser] »Guter Morgen, Marienthal. Ein Stück Arbeit«: So lautet der Titel eines Theaterprojekts der Gruppe »dreizehnterjanuar«. Dieses Wochenende wird es auf dem Gelände der »Para-Chemie Evonik« im niederösterreichischen Gramatneusiedl zu sehen sein. Der exotisch anmutende Schauplatz wurde freilich nicht zufällig gewählt. Bis in die 1930er Jahre befand sich ebendort die Textilfabrik und Arbeiterkolonie Marienthal. 1820 gegründet, zog sie vor allem Textilarbeiter aus Böhmen und Mähren an. Mit ihrem regen Vereinsleben, dem eigenen Fabrikspital samt Badeanlage, einem Montessori-Kindergarten und einer Theater- und Operettenbühne galt Marienthal als Hochburg der Arbeiterbewegung und Aushängeschild liberalen Unternehmertums. Berühmt machte sie jedoch ihr Niedergang im Jahr 1929, berichtet der Soziologe und Anarchismusforscher Reinhard Müller.

[Reinhard Müller] 1929 wurde die Fabrik zu einem klassischen Spekulationsobjekt von Banken. Man hätte die Fabrik ohneweiters weiterführen können. Es gab einen modernsten Maschinenpark, es gab eine gut geschulte Arbeiterschaft. Aber die Banken hatten zu diesem Zeitpunkt eine Reihe von derartigen Textilunternehmen im Wiener Becken, hatten daher wenig Interesse, diese Fabrik, fortzuführen. Die Leute haben im Wesentlichen von der Sozialhilfe gelebt. Danach waren sie angewiesen auf etwas, das es heute noch in Marienthal gibt. Sie werden es sehen, wenn Sie durch den Ort gehen: Es gibt auffallend viele Schrebergärten.

[Markus Moser] 1.200 Arbeiter und Arbeiterinnen, also 80 Prozent der Marienthaler Bevölkerung, wurden durch die Weltwirtschaftskrise schlagartig arbeitslos. Eine Tatsache, die schon damals die Aufmerksamkeit von Sozialforschern auf sich zog.

[Reinhard Müller] Marienthal war ein soziologisches Labor, einzigartig, damals ein auch räumlich sehr isoliertes Gebiet: Bis zum Bauerndorf gab es eigentlich eine Leerstrecke von fast einem halben Kilometer zu überwinden. Das heißt, man hatte hier auch eine geschlossene Gesellschaft. Ich glaube, deswegen ist auch die Idee entstanden, dass man hier eben eine Gemeinschaft als Ganzes erforscht.

[Ausschnitt aus »Guter Morgen, Marienthal«, Katrin Grumeth] T.F., geboren 1883 in Mähren.

[Ausschnitt aus »Guter Morgen, Marienthal«, Johannes Schüchner] T.J., geboren 1876 in Mähren, zehn Geschwister, davon leben nur ich und mein Bruder.

[Ausschnitt aus »Guter Morgen, Marienthal«, Horst Heiss] F.W., geboren 1897 in Marienthal…

[Markus Moser] Sieben Monate lang untersuchte ein fünfzehnköpfiges Soziologenteam um Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda die Lebensbedingungen und Biografien der ehemaligen Textilarbeiter. Die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit« erschien 1933 und wurde bald zu einem Klassiker der empirischen Sozialforschung.

[Reinhard Müller] Die Studie ist in einem, wie ich meine, außergewöhnlichen Stil geschrieben. Hier wurde erstmals wissenschaftlich Erarbeitetes mit den Mitteln der Sozialreportage dargeboten. Dadurch ist sie leicht verständlich, und sie ist wirklich für jedermann und jedefrau lesbar. Und zweitens: Das Projektteam ist ebenfalls bemerkenswert. Insgesamt waren fünfzehn Personen beteiligt, und neun davon Frauen. Dieses Verhältnis war nicht nur für damals sensationell, sondern es ist es ja heute leider immer noch. Und die Frauen hatten durchaus führende Funktionen. Der eigentliche Text der Marienthal-Studie ist von Marie Jahoda verfasst.

[Markus Moser] Vor allem in sozialdemokratischen Kreisen wurde die Marienthal-Studie stark rezipiert.

[Reinhard Müller] Bis dorthin glaubten die politischen Parteien der Linken, insbesondere der Sozialdemokratie, teilweise auch der Kommunisten, dass Arbeitslose die zukünftigen Träger der Revolution sein werden. Und dann hat die Marienthal-Studie genau das Gegenteil belegt.

[Ausschnitt aus »Guter Morgen, Marienthal«, Horst Heiss] Das Schrecklichste ist, dass man den Kindern nichts bieten kann. Ich fürchte, dass sie zurückbleiben. Ich habe im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit einhundertdreißig Offerten geschrieben, aber von nirgends eine Antwort bekommen. Jetzt kann ich nicht mehr.

[Markus Moser] Langzeitarbeitslosigkeit birgt kein revolutionäres Potenzial, sondern führt zu Resignation und Apathie. Dies gilt als zentrales Ergebnis der Marienthal-Studie. Fanny Brunner, die »Guter Morgen, Marienthal« im Rahmen des niederösterreichischen Viertelfestivals inszeniert hat, bezeichnet die Studie als »Menetekel für einen ebenso unaufhaltsamen wie unvorstellbaren Trend«. Szenisch umgesetzt hat sie neben Originaltexten aus der Marienthal-Studie auch Reportagen über Hartz-4-Empfänger.

[Fanny Brunner] Also mich fasziniert die Marienthal-Studie auch schon seit Jahren. Die Studie ist für uns der Ausgangspunkt der Arbeit, aber nicht das Zentrum. Wir versuchen einen Blick in die Arbeitswelt und die Welt der Arbeitslosen heute zu werfen.

[Ausschnitt aus »Guter Morgen, Marienthal«, Katrin Grumeth] Caramba! All diesen Mist und Ramsch, der das derzeitige Wirtschaftssystem am Laufen hält, brauchen wir gar nicht. Sehen Sie sich um: Ramsch, Ramsch, Ramsch. Was fehlt, ist frei verfügbare Zeit.

[Markus Moser] Arbeit, selbst wenn es Lohnarbeit ist, schaffe Sinn und Struktur im Alltag, schrieb Marie Jahoda 1933 in »Die Arbeitslosen von Marienthal«. Sie prägte darin auch das Stichwort von der »müden Gemeinschaft« der Langzeitarbeitslosen, die ihre unbegrenzte, unstrukturierte Zeit nicht als Freiheitsgewinn, sondern als seelische Belastung empfinden würden. Wenn sich heute das Ende der Lohnarbeit abzeichne, müsse man auch den Arbeitslosigkeitsbegriff neu definieren, meint Hans-Jürgen Hauptmann, Dramaturg der Gruppe »dreizehnterjanuar«.

[Hans-Jürgen Hauptmann] Das Interessante war natürlich, dass die Zukunft auch nicht wirklich Lösungsansätze bietet. Und jetzt hat man auf der einen Seite Arbeit als… als eine staatlich verordnete, sozusagen, Zwangsdoktrin, und gleichzeitig bietet man aber keine Arbeitsplätze dafür an. Und jetzt entsteht plötzlich irrsinnig viel Freizeit, die aber nicht als Freizeit wahrgenommen werden kann, wo sich Leute konstruktiv, sozusagen, beschäftigen, sondern wo einfach in dieser Freizeit gelitten wird und ein Verfall stattfindet.

[Markus Moser] Für den Soziologen Reinhard Müller wird in der theatralischen und wissenschaftlichen Gegenüberstellung früherer und heutiger Arbeitswelten noch eine weitere Dimension des Verlusts deutlich.

[Reinhard Müller] Man sieht in der Marienthal-Studie immer nur den Untergang eines Unternehmens und die Folgen: Arbeitslosigkeit. Es wird aber auch regelmäßig angedeutet, dass mit dem Untergang des Unternehmens auch eine Arbeiterkultur zugrunde geht. Heute ist so etwas wie eine Arbeiterkultur, zumindest in dieser ausgeprägten Form, nicht erkennbar. Und da sieht man dann schon massive Unterschiede zwischen den Dreißigerjahren und der Gegenwart.

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