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Michael Freund
&
János Marton
Die
Brüder K.
in:
Marienthal 1930–1980.
Rückblick und sozialpsychologische Bestandaufnahme in einer ländlichen
Industriegemeinde von
Michael Freund
und
János Marton
(Sachbearbeiter) und
Birgit Flos.
Projekt Nr. 1521 des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank.
Projektleiter: Prof. Dr. Alexander Giese. Wien 1982, Bl. 57–64. (Maschinenschrift).
Die
Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung
von Michael Freund, Wien, und János Marton, New York (New York).
Beachten Sie das
Copyright!
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4.8.1. Die Brüder K[opecky]
»Frau
J[ustine] K[opecky], geboren 1890 in Erlach bei Pitten. Der Vater war
eifrig in der Sozialdemokratischen Partei tätig und musste deshalb
ununterbrochen seinen Arbeitsplatz wechseln… Sie landeten dann in
Marienthal, wo die politischen Verhältnisse ziemlich günstig waren. …
Sie kam in die Fabrik als Laufmädel und arbeitete bis 1914 in der
Fabrik. 1910 heiratete sie. … Der Mann rückte ein und fiel im Jahre
1917. Damals waren die Kinder eineinhalb Jahre, drei Jahre und sieben
Jahre alt. … Der Älteste ist (1932) Gärtner in Marchegg und verdient
44 Schilling die Woche, der kann ihr nichts geben, weil er auf ein
Motorrad spart, aber der zweite ist in Wien beschäftigt und verdient 40 Schilling in der Woche, ausserdem bekommt er alle Hemden vom Betrieb. Er
gibt ihr 30 Schilling in der Woche. Den Jüngsten hat sie noch zu
erhalten. … Nach dem Krieg begann sie aktiv in der
Sozialdemokratischen Bewegung zu arbeiten, war erst in der
Frauenorganisation, dann in der
Kinderfreunde-Bewegung tätig. Sie ist im
Ausschuss der Kinderfreunde… Ihre beste Zeit ist jetzt, weil sie nun
sieht, dass aus ihren Kindern etwas geworden ist.«
(aus der Studie,
1933, S. 108f.)
Aus den Kindern
wurde noch einiges mehr seither. Jeder der drei Söhne repräsentiert eine
Möglichkeit, mit den Problemen in Marienthal fertig zu werden. Gemeinsam
waren und blieben ihnen die Verankerung in der sozialdemokratischen
Bewegung und eine geografische Verbundenheit mit Marienthal: Aus der
Gegend wegzuziehen, stand für sie nicht zur Debatte, auch nachdem sie
die Mutter besser versorgt wussten. Die individuelle Bewältigung ihrer
Lebenssituation war schon in der Studie 1933 vorgezeichnet.
Der eine Sohn,
J[osef] K[opecky], konnte der Gärtnerei zwar nicht in Marienthal selbst
nachgehen, blieb aber erst in der Nähe. Nach Aufenthalten in Marchegg
und in der Schoeller-Villa bei Puchberg heiratete er ein Mädchen aus
Wienerherberg und erwarb dort schliesslich seine eigene Gärtnerei. Er
war,
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wie sich auch die
Brüder erinnern, immer schon der ›Selbermacher‹. Seine Beziehung zur
Tradition, in der er aufwuchs, beschränkte sich auf Mitgliedschaft in
der Partei und Sympathie. Im Laufe der Jahre war ihm die Gärtner- und
Werkarbeit wichtiger geworden. In den letzten Jahren allerdings war er
durch eine Verwandtschaft wieder enger mit dem Schicksal Marienthals
verbunden: Seine Tochter hatte den Architekten [d.i.
Josef Hums;
Anm.
R.M.] geheiratet, der die Revitalisierung der
Siedlungshäuser plante.
Der zweite Bruder,
L[eopold] K[opecky], war beim Firmenzusammenbruch knapp vierzehn, ab dem
Zeitpunkt suchte und fand er Arbeit in Marienthal und Umgebung, auch in
Wien, schliesslich bei der
Firma
Sonnenschein, die das Fabriksgebäude
übernommen hatte. Er war der politisch aktivste der Brüder.
»Im
Ständestaat war ich immer politisch ›unzuverlässig‹, ich hab eine Arbeit
nur ein paar Wochen gehabt, dann war ich ihnen wieder zu unzuverlässig.«
Es waren vor allem
die Versuche politischer Arbeit nach 1934, die er teuer zahlen musste:
»Ich
bin auch geschlagen worden von der Polizei, ich war immer dran, da war
z[um] B[eispiel] die 1.-Mai-Geschichte auf dem Teich, da haben sie einen
Gehenkten als Puppe auf ein Boot gestellt mit dem Schild, ›Dem Volke‹,
so, dass man das Boot nicht gleich hat holen können. Und auf einem Dach
stand in Rot: ›Es lebe die Internationale‹. Das haben sie wegmachen
müssen und da haben sie es eben schwarz angestrichen, da konnte man es
genausogut lesen… Aber jetzt gehen wir nicht mehr auf die Dächer.«
Über die
Illegalen:
»Der
Turnverein war die
Keimzelle des Nationalsozialismus in Gramatneusiedl. Man hat nicht so
richtig rausbekommen, dass das Judenhasser waren. Bis zum
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Einmarsch vom
[Adolf] Hitler gab es das nicht. Aber in Wirklichkeit hat es mehr
Kollaboration mit den Nazis gegeben, als wir erwartet hatten. Ich selber
war eh nicht ›würdig‹, bei der S[turm] A[bteilung] aufgenommen zu werden… Aber der Ständestaat war schon keine Demokratie mehr. Da waren wir
schon voller Angst.«
Auch die Frau [d.i. Johanna Kopecky, geborene Urbanek;
Anm.
R.M.] von L.K. war schon in den zwanziger Jahren aktiv in der Bewegung. Sie
spielte in der
Marienthaler Schauspielgruppe und organisierte Veranstaltungen für die
Kinderfreunde und die
Jugendgruppe.
»Ich
war aber keine Funktionärin.«
Nach
1929 kam sie bei verschiedenen Betrieben unter, im Dritten Reich wurde
sie dienstverpflichtet, zum Teil bis nach Wiener Neustadt.
1938, als L.K. bei
Sonnenschein arbeitete und die Fabrik ›arisiert‹ wurde, musste er seinen
Posten verlassen,
»und
die Nazibuben sind hineingekommen auf unsere Posten, obwohl sie nichts
von der Arbeit verstanden haben. …am Anfang waren wir ja froh
gewesen, dass wir Arbeit und Aufträge gekriegt haben, wie jeder in
Österreich. Nur reden hat man halt nicht dürfen.«
Er war wie seine
beiden Brüder im Krieg. Mit einer Kopfverletzung kam er 1944 zurück und
musste fortan Militärfahrzeuge nach Mauthausen fahren,
»denn
die KZs [d.s. Konzentrationslager; Anm.
R.M.] wurden
nicht bombardiert«.
Dort erkannte er einen Marienthaler unter den Aufsehern.
Ȇberhaupt
hat es viel mehr Kollaboration mit den Nazis gegeben als wir vermutet
hatten.
Nach dem Krieg
gehörte die Firma wieder dem
Sonnenschein, aber wir haben ihn nie zu
sehen bekommen.«
L.K. wurde
Betriebsobmann der kleinen Weberei.
»Wir
haben ihm dann 1949 geschrieben, ob er sich interessieren tät, worauf er
einen Treuhänder eingesetzt hat. Also der Jud’ – ich sag es nicht
abfällig –
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den hab ich dann
am Wörthersee abgeholt, wo er im teuersten Hotel mit dem Buben und der
Frau Gemahlin gewohnt hat. ›Guten Tag, Herr K.‹, hat er gesagt, ›Sie
waren unter den letzten, die noch zu uns gehalten haben.‹ Dann hatten
wir eine Sitzung, wo ich die Forderungen für die Firma gestellt habe.
Und da hat er gesagt: ›Was glauben Sie, was das kostet? Über eine
Million!‹ Aber dann haben wir gesagt, ›Die Zeiten sind vorbei, wo ein
Arbeiter vom Stockerl fällt, wenn er eine Million hört, Herr
Sonnenschein!‹ Nein, ›Herr Kurt‹ hab ich gesagt. Die Zeiten sind auch
vorbei, wo man die Leute am Freitag kündigt, weil es sonst Urlaub geben
würde, und dann stellt man sie nach vier Tagen wieder ein, und die
Urlaubsrechte sind erloschen. Da hat der Herr
Sonnenschein kein
Interesse mehr gehabt und die Firma an den
[Justinian] Karoly[i]
verkauft.«
In den fünfziger
und sechziger Jahren war L.K. im Gemeinderat, mehrere Jahre war er
Vizebürgermeister und für kurze Zeit auch Bürgermeister. In seiner
Amtszeit fanden auch die Verhandlungen mit den Österreichischen
Chemischen Werken um die Werksniederlassung statt.
»Die
beiden Direktoren wollten etwas draus machen. Na, fangen wir an, wir
werden c[irk]a 400 Leute brauchen. Das war damals Zucker! Uns war das wurscht, wo die Firma herkommt, Hauptsache, es fängt wieder an. Das war
die Degussa, viertgrösster Konzern von Deutschland, und der Dr. G., der
Direktor, der war ein typischer Deutscher. Bei dem hat der Mensch erst
beim Doktor angefangen… Dann sind sie zu mir gekommen und haben
gesagt, ›Na, L., jetzt kannst im Geld herumrühren!‹ – ›Das bekomm ja
nicht ich, Herr Doktor,‹ hab ich gesagt, ›das bekommt der Fiskus.‹«
Seit Ende der
fünfziger Jahre wohnen L.K. und seine Frau in einem der Gemeindebauten.
In seiner Arbeit im Pensionistenverband setzt er sich dafür ein, dass
Geld für die Renovierung von alten Wohnungen wie denen in Marienthal
bereitgestellt wird statt für den Bau neuer Pensionistenheime,
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»weil
der alte Arbeiter nicht gern von seiner Wohnung weggeht in ein Heim. Er
möcht halt nur nicht gern über die Gasse um ein Wasser und über den Hof
aufs Klo… Es kennt jeder seinen Nachbarn, wenn man in so einer
kleinen Gemeinde ist. Ich glaube nicht, dass meine Frau, wenn sie allein
wäre, nach Himberg (ins Pensionistenheim) gehen möchte.«
Die K.s haben
Aufstieg von der Hinterbrühl geschafft und sind doch gleichzeitig dem
Ort verbunden geblieben. Arbeit bedeutet für sie den Schlüssel zu diesem
Aufstieg, Arbeitslosigkeit hingegen das Trauma, das sie mit ihren
schlimmsten Jahren identifizieren.
»Ich
sag immer, eine Katastrophe möcht’s geben, wenn es keine Arbeit gibt
oder Stagnation, da gibt’s Mord und Totschlag, und das kann über Nacht
wieder kommen.«
Mit ihrem
persönlichen Schicksal scheinen Sie zufrieden?
»Dem
Alter entsprechend; so gut ist es uns noch nie gegangen.«
Für L.K.[,] der sich noch an den Klassencharakter des Herrenparks
erinnern kann, bedeuten die Möglichkeiten, die seine Frau und er heute
ausschöpfen können, eine persönliche und politische Genugtuung:
»Früher
hätte sich doch ein Arbeiter doch ein Lebtag nicht denken können, dass
er einmal an den Lago Maggiore kommt.«
W[ilhelm] K[opecky]
ist der jüngste der drei Brüder.
»Ich
habe die Hosen von meinen Brüdern getragen und da gab es Kinder, die
meine Hosen auch noch getragen haben.«.
Bereits in der Schule erlebte er die Trennung zwischen den
Gramatneusiedler Bauern und den Marienthaler ›böhmischen‹ Arbeitern, die
sich nach 1929 zuspitzte:
»Der
Pfarrer ist von einem Bauern zum anderen essen gegangen und hat
natürlich die Sprösslinge auch bevorzugt. Wir waren immer die Gauner und
Verbrecher… Der Oberlehrer war konträr. Wenn er einen Bauernsohn
gehabt hat, da hat er gesagt, der dümmste Bauer erntet die grössten
Kartoffeln, kannst ruhig blöd bleiben. Von der untersten Schicht muss
man sich selber helfen.«
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Zu Beginn der
dreissiger Jahre fand er durch Zufall Arbeit:
»Ich
hab eine Lehre angefangen, weil der S. einen Zettel gesehen hat:
Lehrling wird aufgenommen.«
In diese Zeit fiel auch seine politische Bewusstwerdung. Bis dahin wuchs
er selbstverständlich in den Sozialdemokratischen Kinder- und
Jugendorganisationen auf.
»Plötzlich,
im vierunddreissiger Jahr, wurde der
Arbeitersportverein aufgelöst, wir waren plötzlich
›Politiker‹, obwohl wir uns nie darum gekümmert haben. Damals sind wir
eigentlich erst hellhörig geworden… Und März ’38, da hab ich gerade
in Wien gearbeitet, und wir hören die Verlautbarung im Radio, wie der
[Kurt] Schuschnigg sagt: Gott schütze Österreich. Ich habe zu meiner
Mutter gesagt: Das ist der Krieg. Viele waren froh, wegen der
Gulaschkanonen: ›der Kurt ist furt, jetzt geht’s uns guat‹. Ja, der Kurt
ist furt, das ist richtig, aber ich hab gewusst, dass nichts Besseres
nachkommt. Diktatur ist Diktatur.«
1939 heiratet W.K.
Die Familie (zwei Kinder) überstand die Kriegsgeschehnisse und die
Nachkriegszeit schlecht und recht. Das zweite Kind entband Frau K. [d.i. Paula Kopecky, geborene Moser;
Anm.
R.M.] 1945 ohne
Hebamme, eine Woche, nachdem ihr Mann aus der amerikanischen
Internierung nach Marienthal zurückgekehrt war. Um aus der alten Wohnung
in der Hinterbrühl wegzukommen, hatte sich die Familie K. 1939 einen
Grund etwas ausserhalb von Marienthal gekauft und sich ein
provisorisches Hütterl gebaut.
»Die
Frau hat da eine Gass’ [Geiß; Anm.
R.M.] und die Hendln
und fünfzig Hasen eingesperrt gehabt. Wie die Russen gekommen sind,
haben sie die Hasen nicht gegessen; die haben sie nur alle rausgelassen.«
Ab 1945 engagierte
sich W.K. hauptsächlich für den Siedlerverein, der die Genossenschaft
bei Marienthal vertrat.
»Dadurch
bin ich überhaupt erst wieder politisch aktiv geworden. Ich war seither
in der Partei und von 46 bis 48 auch im Gemeinderat.«
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Durch die Arbeit
bei der Gemeinde und durch seine Brüder erfuhr er Vieles über die
Vorkommnisse in Marienthal seit seiner Einberufung. Er bedauert, dass
nicht mehr gegen die Verkäufe und den Verfall der ehemaligen
Fabrikseinrichtungen getan wurde.
»Das
war ja eine der mustergültigsten Siedlungen überhaupt, aber die
Kanalisation, der Teich, der
Park: Alles ist durch diese privaten
Verschacherungen ruiniert worden. Dabei war das doch die
Todesko-Stiftung [!], das hätte ja garnicht verkauft werden dürfen. Natürlich haben wir
dann alles versucht, wir waren sogar beim Justizminister und haben
gesagt, das kann doch nicht sein! Aber es war so.«
Im Gemeinderat
bemühte er sich um eine Neuregelung und Minderung des Zinses für die
Altbauten.
»Es
sollte ein bisserl eine Linderung geben. Es gab ja viele Arbeitslose,
auch nach dem Krieg.«
Eigentlich wollte
er mit seinem Schwager eine Werkstatt aufmachen,
»der
ist aber nie zurückgekommen.«
Für seinen Bruder arbeitete er in der Gärtnerei, bei den Bauern drosch
er Getreide. 1948 bis 1976 war er bei Mautner-Markhof in Wien, zum
Schluss als Werkmeister einer Fabrikanlage. Er war Wochenendpendler. In
den sechziger Jahren baute die Familie das einstöckige Siedlungshaus, in
dem sie jetzt wohnen.
Die praktische
Lösbarkeit von Problemen ist für ihn zur Maxime geworden, sei es im
kleinen in Haushaltsdingen, sei es in Fragen wie Atomkraft oder
industrieller Produktivität.
»Ich
bin für die Firma viel herumgekommen. Ich war z[um] B[eispiel] in
Schottland und England, bei denen ist der Maschinenpark eine
Katastrophe. Aber deswegen sind wir konkurrenzfähig, weil man uns nach ’45 alles weggenommen hat und wir haben neu anfangen müssen.«
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Wenn wir die
Familien der Brüder K. besuchten, bleiben die Frauen zunächst im
Hintergrund und delegierten Antworten oft an ihre Ehemänner. Wir sahen
aber, dass sie durchaus ihren Anteil an Entscheidungen hatten,
wahrscheinlich immer schon gehabt hatten; dass sie die Geschicke der
Familien mitbestimmten, die beiden Familien, die im Ort geblieben sind,
zählen zu den prominenten Marienthalern, die auf keiner grösseren
Veranstaltung fehlen.
Auch ihre
Verwandten der nächsten beiden Generationen sind in der Gemeinde fest
verankert. Sie haben bei der
Para-Chemie Arbeit gefunden, neue Wohnungen
bezogen, Häuser gebaut. J.K.
»hat
immer eine grosse Eignung bewiesen, sich ihr Leben gut einzurichten«.
Ihre Fähigkeit scheint auf die Söhne und Enkel, den veränderten
Umständen in Marienthal entsprechend, übergegangen zu sein.

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