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Staatsanwaltschaftliches Vernehmungsprotokoll Marie Jahodas Wien, am 25. März 1937 Fortgesetzt am 25. März 1937, 12:30 Anwesend: Richter Dr. Zeilinger, Schriftführer Dr.Groß. Aus der Haft vorgeführt, gibt die Beschuldigte an:Ich bekenne mich nur insofern schuldig, daß ich in dem wirtschaftspsychologischen Forschungsinstitut, dessen Leiterin ich war, eine Poststelle für verbotene Vereinigungen soz[ial]dem[okratischer] Natur hatte. Mit der kom[munistischen] Partei habe ich, wie ich behaupte, keine Verbindungen unterhalten. An einer kom[munistischen] Organisation war ich nie beteiligt. Ich bin im Jahre 1907 als Tochter des Kaufmannsehepaares Karl [Jahoda] und Betty Jahoda geboren. Mein Vater hatte ein Geschäft für technische Papiere und Apparate. Ich besuchte in Wien die Volksschule und das Realgymnasium in der Albertgasse. Im Jahre 1926 inskribierte ich Vorlesungen der philosophischen Fakultät der Wiener Universität. Im Jahre 1927 habe ich den Dr. Paul Lazarsfeld geheiratet, im Jahre 1930 wurde ich von einem Kinde [d.i. Lotte Lazarsfeld, verheiratete Bailyn] entbunden, 1932 habe ich meine Studien an der Universität vollendet und promovierte. Noch im Jahre 1932 trat ich als Assistentin im Wirtschaftsmuseum ein, 1933 wurde ich Hilfslehrerin der Gemeinde Wien, nachdem ich vorher die Prüfung am Pädagogischen Institut der Gemeinde Wien abgelegt hatte. Diesen Posten als Hilfslehrerin hatte ich bis zum November 1934. In diesem Zeitpunkt wurde ich von der Gemeinde, und zwar wie man mir im Rathaus sagte, wegen meiner sozialistischen Einstellung entlassen. Schon im Jahre 1931 war ich fallweise Mitarbeiterin der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle. Nach meiner Entlassung aus dem Gemeindedienst trat ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin in ein ständiges Vertragsverhältnis zu dieser Forschungsstelle. Ich bin meiner Ueberzeugung nach Sozialistin. Mit 14 Jahren trat ich einer Pfadfinderorganisation bei,1 aus der sich dann eine Gruppe ablöste und dem sozialistischen Wanderbund beitrat. Mit 18 oder 19 Jahren wurde ich Mitglied der soz[ial]dem[okratischen] Partei2 und habe anfänglich keinerlei Funktionen ausgeübt. Ungefähr 3 Jahre vor der Auflösung der Partei hielt ich im Wege der Bildungszentrale<05_Sozialistische_Bildungszentrale> der soz[ial]dem[okratischen] Partei verschieden [!] psychologische und pädagogische Vorträge bei soz[ial]dem[okratischen] Frauenvereinigungen und übernahm schließlich auch die Stelle einer Bibliothekarin in der Arbeiterbibliothek im Karl-Marx-Hof. Ab Feber 1934 habe ich mich dann in dieser Weise nicht mehr betätigt. Die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle wurde im Jahre 19303 vom Univ. Prof. Dr. Karl Bühler gegründet, der auch ihr Präsident war. Die Aufgabe dieser Forschungsstelle war, marktanalytische Untersuchungen durchzuführen. Prof. Bühler blieb bis Ende 1933 Präsident. In diesem Jahre trat er aus der Forschungsstelle aus, da gewisse finanzielle Differenzen entstanden waren. Bis zum Jahre 1934 entwickelte die Forschungsstelle keine Tätigkeit. Erst in diesem Jahre wurde dann der Betrieb durch finanzielle Zuwendungen seitens eines gewissen Leo Gold reaktiviert. Da ein gedeihliches Arbeiten mit Gold unmöglich war, wurde der Betrieb, nachdem Gold ausgetreten war, von den Mitarbeitern als Arbeitsgemeinschaft weitergeführt. Ende 1935 war ich in Paris und traf dort mit Dr. Hermann Maria Spitzer, einem Wirtschaftspsychologen, zusammen. Es gelang mir, ihn für die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft zu interessieren und ihn zu veranlassen, daß er der Forschungsstelle einen Betrag von S[chilling] 10.000 als Kapitalseinbringung zuwendete. Es wurde mit Dr. Spitzer vereinbart, daß ich die wissenschaftliche Leitung, Heinrich Faludi die finanzielle übernehmen solle, und daß Dr. Benedikt Kautsky die Interessen des Dr. Spitzer in der Forschungsstelle wahrzunehmen habe. Die Forschungsstelle hat für zahlreiche große österreichische und auch ausländische Firmen, so z[um] B[eispiel] für Meinl, Delka, Ankerbrotwerke, Herzmansky, Hardtmuth, Budapester Fremdenverkehrsbüro u[nd] a[ndere], marktanalytischen [!] Untersuchungen durchgeführt. Der Betrieb wurde so geführt, daß mir neben mehreren Kanzleikräften auch wissenschaftliche Mitarbeiter zur Seite standen. Die Mitarbeiter der letzten Zeit sind im Polizeiprotokoll angeführt. Die erforderlichen Erhebungen ließ ich durch Rechercheure, die ich zu diesem Zweck aufnahm, durchführen. Es ist richtig, daß ein Teil der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Rechercheure links orientiert ist. Dies deshalb, weil sich ja mein gesamter Bekanntenkreis aus Personen zusammensetzt, die soz[ial]dem[okratisch] orientiert sind. Es ist daher selbstverständlich, daß ich, wenn mich meine Bekannten um einen Posten angehen, diese, wenn sie geeignet sind, beschäftigte. Die Arbeiten, die von Seiten der Forschungsstelle durchgeführt worden sind, erfordern eine derart intensive Tätigkeit, daß der von mir eingerichtete Bürobetrieb mit der Durchführung der gestellten Aufgaben voll und ganz in Anspruch genommen ist. Wenn mir daher vorgehalten wird, daß der Verdacht besteht, daß die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle eine Tarnung für eine dahinterstehende sozialistische oder kom[munistische] Organisation darstelle, so bestreite ich dies und weise darauf hin, daß infolge der vollen Beanspruchung über eine normale Bürozeit hinaus durch die wissenschaftlichen Arbeiten schon rein zeitlich die Möglichkeit für andere organisatorische Arbeiten nicht gegeben ist.
V[erstanden,] g[elesen und]
g[ezeichnet]
Dr. Groß
Dr. Marie Jahoda-Lazarsfeld Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien, Landesgericht für Strafsachen Wien, Vr 10981/36.
1 Tatsächlich
war Marie Jahoda 1923 bis 1924 bei den Pfadfindern. Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Marie
Jahoda trat 1925 der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Deutschösterreichs« (SDAP) bei. Anmerkung
Reinhard Müller.
3 Die
Forschungsstelle wurde erst im Oktober 1931 gegründet.
Anmerkung
Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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