Kriminalpolizeiliches Vernehmungsprotokoll Marie Jahodas

Wien, am 17. Dezember 1936

Niederschrift,


fortgesetzt bei der Bund[es] Pol[izei] Di[rekti]on Wien am 17.12.1936 um 20 Uhr mit

Dr. Marie Lazarsfeld,

welche angibt:
Bezüglich des an Dr. Julius Klanfer adressierten Briefes bleibe ich bei meiner bisherigen Verantwortung, das heißt, ich bleibe dabei, daß sich bei mir nur eine Poststelle befand. Ich bestreite nach wie vor, daß ich von dem Inhalt der Schreiben, die einliefen, Kenntnis hatte. Ich verweigere auch weiterhin irgendwelche Angaben bezüglich der Person, die mich zur Übernahme der Poststelle geworben hat. Bemerken will ich, daß Dr. Klanfer nicht davon in Kenntnis ist, daß sein Name für diese Zwecke mißbraucht wurde.
Paket F Zu den Stenogrammen in der Mappe mit Ordnungszahl 6: Wie ich bereits bei meiner Einvernahme am 1.12.1936 angegeben hatte, habe ich mich bereits vor meinem Zusammentreffen mit Prof. Dr. [Max] Horkheimer in Paris Ende Dezember 1935, anfangs 1936 mit der wissenschaftlichen Arbeit »Die Denkgewohnheiten« beschäftigt. Für diese Arbeit habe ich verschiedene Befragungen selbst durchgeführt. Ich wandte mich an Personen meines Bekanntenkreises, Verwandte, Freunde und Studenten. Ich stellte an diese Personen drei Fragen, und zwar »was ist Sozialismus?«, »was erwarten Sie sich vom Sozialismus?« und »wie sind Sie zum Sozialismus gekommen?«.
Ich nahm den Sozialismus deshalb zum Gegenstand der Befragung, weil Sozialismus ein Begriff ist, von dem die Leute bereits in ihrer frühen Jugend hören und weil ich der Meinung war, daß dann die Leute später weniger darüber nachdenken.
In meiner angeführten Arbeit wollte ich untersuchen, ob das Denken der Menschen auch durch andere als intellektuelle Einflüsse beeinträchtigt werde. Ich wollte durch eine Kombination von Einzelanalysen und statistische[n] Erhebungen mein Ziel erreichen. Von dieser Arbeit hatte ich in Paris mit Prof. Dr. Horkheimer gesprochen und mich, wie ich bereits erwähnt habe, von ihm bewegen lassen, meine Arbeit auf einer breiteren Basis durchzuführen. Breitere Basis insoferne, als ich jetzt zu dem Resultat auf rein statistischem Wege gelangen wollte. Ich wandte mich daher nach meiner Rückkehr an Personen meines Bekanntenkreises mit dem Ersuchen, sowohl bei ihnen bekannten Personen wie auch in Betrieben, wenn sie in Betrieben tätig waren, Befragungen in der Richtung durchzuführen, wie ich sie kurz skizzierte (Beilage mit Ordnungszahl C a). Bemerken will ich, daß ich anfangs aber nur in der Richtung erheben ließ, in welchem Alter die einzelnen Personen zu irgendeiner politischen Partei gekommen wären und aus welchem Anlaß .Erst in letzter Zeit, unmittelbar vor der Durchführung der Betriebsratswahlen, erweiterte ich die Befragung in der Weise, wie sie auf einem Blatt Papier bei mir vorgefunden wurde (Beilage »C/a«), das heißt, ich ließ erheben die Stärke aller Organisationen, einschließlich der illegalen. Bei dem bei mir vorgefundenen maschingeschriebenen Blatt »C/a« handelt es sich nicht um einen Durchschlag, sondern um das Original. Ich habe keine Durchschläge angefertigt und weitergegeben. Daß dieses Schema bei mir vorgefunden wurde, ist wohl ein Zeichen, daß ich meine Arbeit als unbedenklich ansah. Ich füge hinzu, daß ich selbstverständlich dieses Schema dann beim Abschluß der Arbeit auch benötigt hätte.
Die Namen jener Personen, die für mich die einzelnen Befragen durchgeführt haben, bez[iehungs]w[eise], die mir Material geliefert haben, wie zum Beispiel die Erhebung in den Saurer- und Hammerbrotwerken1 (Beilage »C/b«) und die Aufstellung des Mitgliederstandes des Gewerkschaftsbundes am 30. Juni 1936 (Beilage »C/e«) will ich nicht angeben, um den Personen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.
Über Vorhalt: Das maschingeschriebene Elaborat, beginnend mit »Steinmetzbetrieb Hauser IX«2 (»C/g«) stammt aus einer früheren Zeit, und zwar von Jänner, Februar 1936, als ich von Paris zurückgekehrt war. Wenn mir vorgehalten wird, daß diese Erhebungen dem von mir später, anläßlich der Betriebsratswahlen ausgearbeiteten Schema entsprechen (C/a), so erkläre ich dies damit, daß das Prinzip das gleiche ist.
Über Vorhalt: Daß ich Berichte aus verschiedenen Betrieben erhalten habe, erkläre ich damit, daß ich einen großen Bekanntenkreis noch aus der legalen Zeit her hatte. An Einzelne dieser Leute habe ich mich gewandt, um Situationsberichte, wie ich sie benötigte, zu erhalten, andere wieder wandten sich an mich, um durch mich irgendeine Beschäftigung zu erhalten. Vielfach habe ich diese Berichte nicht von der betreffenden Person selbst, sondern durch deren Vermittlung erhalten.
Über Befragen: Die politische Einstellung des Prof. Dr. Horkheimer, ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, daß Prof. Dr. Horkheimer dem Verlag Alcan in Paris nahesteht. Frau Dr. Käthe Leichter kenne ich schon seit einer Reihe von Jahren. Meine Beziehungen aus der legalen Zeit waren teils persönlicher und teils politischer Natur. Nach den Februarereignissen 1934 verließ sie Wien und dürfte sich ungefähr ein Jahr in Basel oder Zürich aufgehalten haben. Glaublich im Jahre 1934 erhielt Dr. Käthe Leichter durch Vermittlung Prof. Dr. Horkheimers die Durchführung der Recherchen für die Arbeit »Die Autorität der Eltern in der Schweizer Familie« in der Schweiz übertragen. Den Auftrag zu dieser Arbeit erteilte das »Institut des Recherches Sociales«. Die wissenschaftliche Leitung dieses Institutes befindet sich in New-York in Händen Prof. Horkheimer’s und Dr. [Friedrich] Pollok’s.3 Die administrative Leitung hat glaublich Frau [Juliette] Favez in Genf inne. Das genannte Institut wird von einer privaten Stiftung dotiert und ist der Stifter ein gewisser [Felix] Weil.4 Es handelt sich um einen Deutschamerikaner. Anschließend an die Erhebungen in der Schweiz wurden die gleichen Erhebungen durchgeführt in Frankreich und Österreich. Es wurden in jedem der genannten Länder ungefähr je 1000 Befragungen durchgeführt. In Österreich unter anderem in Mittelschulen, bei den Teilnehmern der Aktionen »Jugend in Not«, »Jugend in Arbeit«.5 Dr. Horkheimer wies Dr. Käthe Leichter an, sich mit mir in Verbindung zu setzen, damit ich die statistischen Arbeiten übernehme, in denen sie nicht besonders gewandt ist. Als Frau Dr. Käthe Leichter anfangs 1935 wieder nach Wien zurückkehrte, stand ich mit ihr dauernd in wissenschaftlicher Verbindung. Diese Verbindung bestand bis in die letzte Zeit. Ich stellte Dr. Käthe Leichter alle statistischen Hilfsmittel, zu denen ich Zutritt hatte, zur Verfügung. Naturgegebenerweise suchte sie mich auch öfters in der Forschungsstelle auf. Ihren Mann [d.i. Otto Leichter6] kannte ich nur flüchtig.
Über Befragen: Dr. [Benedikt] Kautzky [recte Kautsky; R.M.] pflegte auch in gewissen Zeitabständen die Forschungsstelle aufzusuchen, da er mit Dir[ektor Heinrich] Faludi für die Forschungsstelle zeichnungsberechtigt war. Auch arbeitete er an der in der letzten Zeit für die Firma Titze durchgeführten Marktanalyse wissenschaftlich mit.
Seit ungefähr anfangs Oktober 1936 bin ich gemeinsam mit Dr. Käthe Leichter mit der Arbeit »Einfluß der Arbeitslosigkeit auf die Autorität der Eltern« beschäftigt.7 Wie ich bereits angegeben habe, erhielt ich den Auftrag zu dieser Arbeit gleichfalls von dem Institut des Recherches Sociales. Es besteht der Plan, bei 100 arbeitslosen Familien in Wien die betreffenden Erhebungen durchzuführen. Diese Erhebungen wurden, bez[iehungs]w[eise], werden von Dr. Käthe Leichter und Ludwig Wagner, Anschrift unbekannt, durchgeführt. Ich selbst sehe die Arbeiten bloß durch, und versah sie mit entsprechenden wissenschaftlichen Vermerken.
Über Befragen: Ludwig Wagner ist der Gatte der ehemaligen wissenschaftlichen Leiterin der Forschungsstelle, der Frau Dr. Gertrude Wagner, die sich derzeit in London aufhält.
Beendet 22 Uhr 30

Dr. Stegerwald m.p. Dr. Marie Jahoda-Lazarsfeld m.p.

Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien, Landesgericht für Strafsachen Wien, Vr 10981/36.

1 Saurerwerke: 1906 in Wien gegründete Automobilfabrik (Lastkraftwagen und Autobusse); seit 1914 »Österreichische Saurerwerke«; 1959 von der »Steyr-Daimler-Puch Aktiengesellschaft« übernommen und 1969 mit ihr fusioniert. – Hammerbrotwerke: auf Betreiben des »Niederösterreichischen Arbeiter-Consum-Vereines« 1908/09 in Schwechat errichtete Brotfabrik, die später um Nebenbetriebe und weitere Unternehmen in Wien erweitert wurde. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Steinmetzbetrieb Hauser: erste industrielle Steinmetzindustrie Österreichs (vor allem Grabsteine und Marmorarbeiten), gegründet vom k(aiserlich) k(öniglichen) Hofbildhauer Eduard Hauser (Wien 1840 – Wien 1915). Anmerkung Reinhard Müller.
3 Friedrich (später: Frederick) Pollock (Freiburg im Breisgau, Baden-Württemberg 1894 – Montagnola, Tessin 1970): Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe; Mitbegründer des »Instituts für Sozialforschung«in Frankfurt am Main und dessen administrativer Leiter. Anmerkung Reinhard Müller.
4 Felix Weil (Buenos Aires 1898 – Dover, Delaware 1975): Sozialwissenschaftler; Mitbegründer des »Instituts für Sozialforschung« in Frankfurt am Main und – als Millionärssohn – dessen finanzieller Unterstützer. Anmerkung Reinhard Müller.
5  Jugend in Not: 1930 von der Wiener Arbeiterkammer<05> gegründete Organisation für die Beschäftigung arbeitsloser Jugendlicher; aus ihr ging 1931/32 »Jugend am Werk« hervor, eine Organisation der Wiener Arbeiterkammer zur Beschäftigung arbeitsloser Jugendlicher; wurde 1945 innerhalb des Magistrats Wien wiederbegründet und wirkte später Österreichweit. Die hier angesprochenen Untersuchungen fanden Eingang in den Aufsatz von Marie Jahoda-Lazarsfeld: Autorität und Erziehung in der Familie, Schule und Jugendbewegung Österreichs, in: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Band 2. Paris: Librairie Félix Alcan 1936, S. 706–725. Anmerkung Reinhard Müller.
6 Otto Leichter (Wien 1897 – New York City, New York 1973): Publizist, Journalist und sozialdemokratischer Politiker; maßgeblich an der illegalen Presse der »Revolutionären Sozialisten Österreichs« (RSÖ) beteiligt; emigrierte 1938 nach Frankreich und 1940 in die USA; seit 1921 mit Käthe Pick verheiratet. Anmerkung Reinhard Müller.
7 Die Studie wurde nicht fertiggestellt und ist auch nicht als Fragment vorhanden. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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5. Jänner 1937
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