Staatsanwaltschaftliches Vernehmungsprotokoll Marie Jahodas

Wien, am 23. April 1937

Fortgesetzt am 23.4.1937, 12:15 Uhr. Anwesend: Richter Dr. Zeilinger, Schriftführer Dr. Groß, die aus der Haft vorgeführte Besch[uldigte] Maria Lazarsfeld.
Wie ich bereits bei meiner zweiten Vernehmung angegeben habe, bekenne ich mich auch heute nur schuldig, in der von mir geleiteten Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle eine Poststelle für die R[evolutionären] S[ozialisten] unterhalten zu haben. Glaublich im Juli 1936 suchte mich ein mir schon seit langem bekannter Sozialist auf und forderte mich auf, an der illegalen Arbeit der R[evolutionären] S[ozialisten] aktiv mitzuwirken. Schon aus Zeitmangel – ich war nämlich damals mit beruflicher Arbeit überhäuft – und aus anderen Gründen lehnte ich eine aktive politische Tätigkeit ab. Der Bekannte, dessen Namen zu nennen ich nicht gewillt bin, bat mich nun, daß ich zumindest gestatten möge, daß Briefe von Parteigenossen an die Adresse der Forschungsstelle unter meinem Namen an ihn geschickt werden. Ich kam diesem Wunsche nach. Tatsächlich sind dann in der Folgezeit bis zu meiner Verhaftung Briefe für den Bekannten an meinen Namen angekommen, die er sich regelmäßig abholte. Ich habe wohl gewußt, daß es sich bei diesen Briefen um eine illegale Tätigkeit handelt. Den Inhalt der Briefe kannte ich jedoch in keinem einzige [!] Fall, da ich sie nicht öffnete. Daß die Briefe nicht für mich bestimmt waren, erkannte ich an der Textierung der Anschrift. Diese Briefe waren an »Mizzi Jahoda« gerichtet, während ich meinen Vornamen sonst mit »tz« schreiben lasse. Als Mitte August 1936 ein Mitarbeiter des Institutes, Dr. Julius Klanfer, nach Frankreich verzog, vereinbarte ich mit dem Bekannten, daß er nunmehr die Briefe auf den Namen D[octo]ris Klanfer an das Institut schicken lassen solle. Es sind dann tatsächlich zwei Briefe auf den Namen Dr. Klanfer, die meinem Bekannten gehörten, eingelangt. Auch diese Briefe habe ich nicht gelesen.
Wie ich bereits erwähnt habe, habe ich im Dezember 1935 in Paris Prof. [Max] Horkheimer aus New-York, mit dem ich schon einige Zeit vorher im brieflichen Verkehr stand, parsönlcih [!] kennen gelernt. Horkheimer trug mir zwei Arbeiten auf und zwar eine über die Autorität in den Wiener Familien1 und eine zweite über Denkgewohnheiten. Der Zweck dieser zweiten Arbeit war, den Einfluß von äußeren Ereignissen auf die Wandlungen im Denken festzustellen. Diese Feststellung sollte auf Grund zahlreicher Erhebungen an Einzelpersonen und an großen Gruppen vorgenommen werden. Für diese Arbeit wählte ich als Beispiel die Einstellung das Einzelindividuums und von Personengruppen zum Sozialismus. Den Sozialismus wählte ich deshalb als Beispiel, weil ich der Ueberzeugung war, daß die Idee des Sozialismus im weitesten Kreise bekannt war. Es war mir nun darum zu tun, in den dieser Arbeit nachzuweisen, daß die Einstellung des Einzelnen zum Sozialismus nicht ein Produkt einer gedanklichen Ueberlegung ist, sondern von den äußeren Umständen beeinflußt wird. Zu diesem Zwecke habe ich, da mich diese Arbeit schon vor meiner Bekanntschaft mit Prof. Horkheimer beschäftigte, schon seit langem Material durch Befragung von Einzelpersonen gesammelt. Auch durch die Feststellung der in den einzelnen Betrieben bei der E[inheits-]G[ewerkschaft] Organisierten und die Vergleichung dieser Ziffer mit den Ergebnissen der gewerblichen Betriebezählungen aus dem Jahre 1930 wollte ich ergründen, ob die Organisierbarkeit zu- oder abgenommen hat. Außerdem lag es mir daran festzustellen, ob eine Verschiebung in der Einstellung zum Sozialismus und Kommunismus eingetreten ist. Zu diesem Zwecke habe ich auch Erhebungen über den Mitgliederstand der E[inheits-]G[ewerkschaft] und der illegalen Gewerkschaften in den einzelnen Betrieben durchführen lassen, d[as] h[eißt] ich habe mir bekannte Leute aus verschiedenen Betrieben gebeten, mir Mitteilungen über die Organisationen in den Betrieben zukommen zu lassen.
Das Ergebnis dieser Erhebungen ist in Beilage C (Ergebnis der Hausdurchsuchung) enthalten.
Nach Vorhalt, daß die betreffenden Berichte infolge ihrer tendenziösen Abfassung (insbesonders Beilage g in C) klar erkennen lassen, daß es sich hier nicht um objektive Feststellungen handelt, sondern um Mitteilungen über die Stärke und die Aktivität der sozialistischen Arbeiterorganisation und Mitteilungen über Ereignisse in den Betrieben, wie sie in den Nachrichten der illegalen Blätter verbreitet werden:
Ich habe die Mittellungen nehmen müssen, wie ich sie bekommen habe. Nachdem in den einzelnen Mitteilungen zuviel Stimmungsberichte enthalten waren, habe ich dann einen allgemeinen Fragebogen ausgearbeitet.
Nach Vorhalt, daß diese Mitteilungen, wie sie vorliegen, von einer einzigen Person abgeschrieben worden sind, daß sie daher nicht das Ergebnis der Befragung verschiedener Betriebsangehöriger durch die Beschuldigte darstellen können:
Ich habe diese Berichte auf handschriftlichen Zetteln erhalten und sie von einer Schülerin abschreiben lassen.
Nach Vorhalt Beilage b in Kuvert C, in welchem [!] Berichte überhaupt nichts enthalten ist, was für eine statistische Arbeit verwertet werden könnte:
Es ist dies einer von den vielen für mich wertlosen Zettel, die ich irrtümlich aufgehoben habe. Wenn ich gesehen hätte, daß darauf Z.K. (Zentralkomitee) steht, hätte ich bestimmt den Kopf abgeschnitten.
Nach Vorhalt, daß dieser Zettel den Schluß zuläßt, daß die Besch[uldigte] Mitglied des Z[entral]K[omitees] oder zumindestens nahe Beziehungen zu diesem Komitee unterhält:
Es ist unrichtig, daß ich Mitglied des Z[entral]K[omitees] bin. Ich bin an der illegalen Organisation der R[evolutionären] S[ozialisten] völlig unbeteiligt. Von wem ich den Zettel bekommen habe, kann ich nicht sagen. Wer den Vermerk darauf gesetzt hat, ist mir unbekannt.
Nach Vorhalt der in der Mappe, die mit »Denkgewohnheiten« überschrieben ist, enthalten stenographischen Aufzeichnung: W 26 Jahre I 1 B 1 früher und jetzt:
Es handelt sich hier um eine Erhebung, die ich für die angegeben[e] Arbeit »Denkgewohnheiten« durchgeführt habe. Die auf der Rückseite des Zettels enthaltenen Aufzeichnungen sind mir unverständlich. Ich bezweifle überhaupt, daß das ganze Stenogramm einschließlich der Erhebung von mir stammt. Ich schließe dies daraus, weil meiner politischen Ueberzeugung nach es vollkommen unrichtig ist, daß der Schutzbund, wie es auf diesem Zettel heißt, die einzige Macht sei, die den Generalstreik organisieren könne.
Nach Vorhalt Bl[att] 70 bis 72 (Uebertragung des Textes der in der Wohnung der Besch[uldigten] vorgefundenen Karbonpapiere):
Die Karbonpapiere wurden von mir nicht benützt. Ich habe einen ähnlichen Text, wie er auf diesen Karbonpapieren zu lesen ist, nicht geschrieben. Ich habe gewöhnlich Karbonpapiere, die ich für meine Arbeiten benötigte, aus der Forschungsstelle mitgenommen. Es dürfte daher der Text in der Forschungsstelle geschrieben worden sein und zwar von dem eingangs erwähnten Bekannten, der die Briefe, die für die R[evolutionären] S[ozialisten] einlangten, abholte. Dieser Mann ist nämlich an zwei Samstagnachmittagen vor Eintreffen der ½6 Uhr-Post in das Institut gekommen, und hat auf die Post gewartet. In der Zwischenzeit hat er im Institut auf der dort befindlichen Maschine etwas geschrieben. Ich dürfte dann die von ihm benützten Karbonpapiere nachhause genommen haben.
Dieser Mann hat mich glaublich 3 Wochen vor meiner Verhaftung ersucht, ich möge bei der Länderbank ein Safe mieten und ihm dasselbe zur Verfügung stellen. Er hat mir gesagt, er habe historisch interessantes und ungefährliches Material zu verwahren. Ich mietete tatsächlich das Safe und bin mit diesem Bekannten zur Deponierung dieses Materials in die Länderbank gegangen. Er zeigte mir nationalsozialistisches Material, das in Kuvert 1 enthalten ist. Was er sonst noch im Safe eingeschlossen hat, habe ich nicht gesehen. Ich habe daher vom weiteren Inhalt des Safes keine Kenntnis gehabt.
Wann mir vorgehalten wird, daß in zwei im Safe enthaltenen Briefen eines ehemaligen und eines gegenwärtigen Mitgliedes des Z[entral-]K[omitees] der R[evolutionären] S[ozialisten] über die Mitgliedschaft zum Z[entral-]K[omitee] b[e]z[iehungs]w[eise] den Verlust derselben durch Abwesenheit oder Anhaltung während längerer Zeit debattiert wird, und daß ferner aus dem Text eines in meiner Wohnung gefundenen Karbonpapieres hervorgeht, daß gleichfalls diese[s] Thema behandelt worden ist, so daß der Schluß gerechtfertigt ist, daß ich in einem Schriftstück diese Frage entschieden hätte, gebe ich an, daß das nicht der Fall ist, weil ich bereits bestritten habe, dieses Karbonpapier verwendet zu haben.


V[erstanden,] g[elesen und] g[ezeichnet]

Dr. Groß Dr. Marie Jahoda-Lazarsfeld
Dr. Zeilinger

Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien, Landesgericht für Strafsachen Wien, Vr 10981/36.

1 Siehe den Aufsatz von Marie Jahoda-Lazarsfeld: Autorität und Erziehung in der Familie, Schule und Jugendbewegung Österreichs, in: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Band 2. Paris: Librairie Félix Alcan 1936, S. 706–725. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

VERFOLGUNG & VERTREIBUNG
Verhaftung
Pressereaktionen
Beschlagnahmungen
Vernehmungen
unheimliche Heiterkeit
schreckliche Bilder
5. Jänner 1937
Polizeibericht 1
Polizeibericht 2
Haftbedingungen
Gedichte aus der Haft
Erfahrungen aus der Haft
Brief an Horkheimer
internat. Fürsprache
abgelehntes Gnadengesuch
Anklage
Hauptverhandlung
Urteil
politische Intervention
Vertreibung