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Erinnerungen an Marienthal

Marie Jahoda im Gespräch mit Christian Fleck

Keymer (Sussex), am 4. September 1987

Auszugsweise und von Reinhard Müller redigierte Wiedergabe eines Interviews von Christian Fleck mit Marie Jahoda.

Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz), Tondokumente, Signatur T–4.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Christian Fleck, Graz, und dem Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz).

Ich habe einen komplizierten Studiengang gehabt, denn in den ersten zwei Jahren war ich gleichzeitig am Pädagogischen Institut der Stadt Wien und an der Universität. Dazwischen bin ich ein Jahr in Paris gewesen und habe geheiratet, habe mein Kind[1] gehabt, so dass mein Studium, das ich im Jahr 1926 begonnen habe, erst im Jahr 1932 zum Doktorat geführt hat.

Waren Sie in Paris auch studienhalber oder aus anderen Gründen?

Ich bin an der Sorbonne in Vorlesungen gegangen, aber in einer ganz unorganisierten Weise. Ich war in Paris, um mich mit mir selbst zurechtzufinden, um einen besseren Ausblick auf Wien zu bekommen, um mein Französisch zu verbessern und aus einer Reihe von persönlichen Gründen… Neugierde, und um Österreich von außen zu sehen.

Wie war der Zusammenhang zwischen dem doch eher mit der Universität, dem wissenschaftlichen, akademischen Leben verknüpften Diskussionsbereich und dem im Vergleich zu heut – oder sehe ich das vielleicht falsch als später Geborener – unvergleichlich stärkeren intellektuellen Debatten innerhalb der Sozialdemokratie? Das sind doch zwei verschiedene Bereiche. Haben die immer miteinander etwas zu tun gehabt, oder waren das verschieden Welten?

Als Institutionen waren sie verschiedene Welten. Aber diejenigen von uns, die damals jung waren, haben an beiden Welten teilgenommen. Und was originell und interessant an den ersten sozialpsychologischen Arbeiten im Wien jener Zeit war, war die Verbindung des soziologischen Verständnisses, das vom Austromarxismus kam, mit dem psychologischen Einfluss und Denken, die von der Universität kamen. So ist damals in Österreich sicher zum ersten Mal, aber – wahrscheinlich nicht zu oft – anderswo auch, eine Sozialwissenschaft entstanden, die individuelle, psychologische Faktoren genauso ernst genommen hat wie die sozialen und soziologischen: das heißt, der wirkliche Versuch, der Idee der Sozialpsychologie gerecht zu werden. Sozialpsychologie heute zerfällt in zwei Teile: Da gibt es die psychologische Sozialpsychologie, die das kollektive Leben auf Psychologisches reduziert, und da gibt es die soziologische, die das Psychologische, die psychologischen Faktoren, auf soziale Institutionen reduziert. Das wirkliche Ziel der Sozialpsychologie ist dahin zu verstehen, dass die Beziehung zwischen Individuum und Kollektivität das gesamte Leben bestimmt, und dass es nun darum geht, beiden Teilen gerecht zu werden. Aber das ist außerordentlich schwer. Es ist viel leichter, psychologische Experimente zu machen oder die Geschichte von Institutionen aufzuzeigen. Und trotzdem: Zum Beispiel in der Marienthal-Studie, glaube ich, ist es uns gelungen, das Erlebnis der Einzelnen, die lokale Gemeinschaft sowie den sozialen Faktor der Massenarbeitslosigkeit im Zusammenhang, in ihrer Wechselwirkung zu verstehen.

Bestand dieses Verständnis für die sozialen Zusammenhänge bei Charlotte Bühler und Karl Bühler auch in dem Sinne, dass sie das gefördert hätten, oder war das die originelle Leistung der Schüler von Bühler?

Ich glaube, es wurde am stärksten geprägt durch Paul Lazarsfeld, der führend in dieser ganzen Gruppe junger Sozialwissenschaftler war. Es war am stärksten entwickelt in jener Gruppe, die in zwei getrennten Welten je einen Fuß gehabt hat und die so die Ideen zusammengebracht hat. Ich soll nicht übertreiben, wissen Sie, das Wiener intellektuelle Leben war reich, aber im Personenkreis relativ beschränkt, so dass man nicht nur Psychologe war, sondern man hat auch gewusst, was in der Kunst vorgeht, was in der Architektur, was in der Philosophie, was politisch vorgeht. Da waren immer persönliche Kontakte, die das Ganze irgendwie innerhalb des Bereichs eines einzigen Menschen gebracht haben. Aber die aktive Teilnahme an der Universität und am Politischen war relativ beschränkt.

Nun, die Bühlers. Karl Bühler war ein großartiger Mann, und ich erinnere mich: Wir haben ein Kolloquium an der Universität gehabt, in dem ich dann zum ersten Mal über Marienthal berichtet habe, und Karl Bühler hat das voll aufgegriffen. Er hat verstanden, dass das ein ernster Versuch ist, die Beziehung zwischen Psychologischem und Soziologischem klarzustellen. Charlotte Bühler, die natürlich auch außerordentlich begabt war, war eine kompliziertere Persönlichkeit, nicht so gentle – ich weiß nicht, wie man »gentle« auf Deutsch sagt –, nicht so verständnisvoll, viel ehrgeiziger als Karl Bühler. Aber ihre Arbeiten haben auch den Vorteil gehabt, dass sie sich auf die Welt und das Leben, wie es wirklich gelebt wird, bezogen haben und nicht nur im Laboratorium stecken geblieben sind. Charlotte Bühlers Assistentin, Hildegard Hetzer, über die ich leider aus der Nazizeit schlechte Dinge gehört habe, hat trotzdem vor der Nazizeit ein außerordentlich wichtiges Buch veröffentlicht, »Kindheit und Armut«,[2] das auf dem Vergleich zwischen der psychologischen Entwicklung von Kindern aus armen Verhältnissen und Kindern aus guten Verhältnissen beruht und das wirklich ausgezeichnet war, in der gesamten Konzeption und in der Durchführung. Und Charlotte Bühler mit ihren Studien des gesamten menschlichen Lebenslaufs ist ein anderes Beispiel für die größere Realitätsbezogenheit der Psychologie in Wien. Wie ich dann nach Amerika gekommen bin, war das zuerst Erschreckende in der Psychologie, dass man sich weitgehend nur auf wissenschaftliche Methodik beschränkt hat und dass man mit der größten Geschicklichkeit in der Statistik die trivialsten Probleme untersucht hat. Das ist jetzt nicht ganz fair, denn es gab natürlich auch in Amerika einige ganz ausgezeichnete Psychologen, die sich auch am Leben orientiert haben und nicht nur an der Methode. Aber trotzdem: Der Hauptstrom war in Amerika methoden- und nicht probleminteressiert.

Mir ist beim vergleichenden Lesen zwischen der Marienthal-Studie und Ihrer Studie über Südwales[3] aufgefallen, dass Sie bei der walisischen Studie stärker Bezug nehmen auf diese biografische Analyse von Charlotte Bühler und auf diesen Lebenslauf.

Ja.

War das in der Marienthal-Studie noch nicht – sozusagen – konzeptionell da?

Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, denn ich habe die Marienthal-Studie 1931/32 durchgeführt. Erst 1931 habe ich meine Dissertation zu schreiben begonnen, und die war über den menschlichen Lebenslauf,[4] den Charlotte Bühler nur an den Großen – [Johann Wolfgang] Goethe, [Richard] Wagner und so weiter – studiert hat. Meine Arbeit war, in Altersheime zu gehen, in Versorgungsheime, um zu sehen, ob die verschiedenen Perioden, die Charlotte Bühler identifiziert hat, Sinn machen, wenn man nicht an große Menschen denkt, sondern an Menschen, wie wir alle sind, gewöhnliche Menschen. So kam es, dass meine eigene, intensive Beziehung oder Beschäftigung mit den Lebenslaufsideen erst nach der Marienthal-Studie für mich aktuell geworden ist. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber ich glaube, Charlotte Bühlers Buch, in dem sie meine Arbeiten, meine Dissertation zitiert, ist erst 1933 oder 1934 erscheinen, nach der Vollendung der Arbeit in Marienthal.[5]

In der Marienthal-Studie gibt es ganz am Ende einen kurzen Hinweis: Es wurden auch Lebensgeschichten gesammelt.

Ja. Und wir haben dort, glaube ich, ein paar zitiert. Wie ich »Marienthal« geschrieben habe, hatten wir alle das diskutiert. Wir hatten viele Diskussionen: Wie es organisiert werden soll und wo die Hauptpunkte sind. Unter allen Mitarbeitern wurde das diskutiert. Und dann habe ich das Material genommen und die Arbeit geschrieben. Und eben von diesem Schreiben ist mir ganz deutlich in Erinnerung, dass in der Marienthal-Studie zwei separate Gesichtspunkte sind. Der eine war, dass die Haltung der Menschen von der Höhe des Arbeitslosengeldes abhängt – sehr verständlich. Die Lebensgeschichten haben aber gezeigt, dass die Haltung der Menschen von ihrer Persönlichkeit abhängt, das heißt, wir hatten Lebensgeschichten von Menschen, die schon vor der Arbeitslosigkeit große Initiative gezeigt haben, die vielseitig interessiert waren, und von anderen, die schon vor der Arbeitslosigkeit zur Resignation geneigt haben. So gab es da zwei Faktoren: die ökonomische und die psychologische Bestimmtheit der Einstellung oder des Erlebnisses der Arbeitslosigkeit. Wenn ich gescheiter gewesen wäre, als ich damals war, hätte ich versucht, diese beiden Beziehungen irgendwie in Verbindung zu bringen. Aber wenn Sie heute die Marienthal-Studie lesen, dann werden Sie sehen, dass es in verschiedenen Kapiteln, also unabhängig voneinander, dargestellt ist. Es gibt ein paar Exemplare der Lebensgeschichten, nur weil sie interessant sind, und den statistischen Zusammenhang mit dem Einkommen in einem anderen Kapitel, aber beide nicht aufeinander bezogen.

Aber man könnte also sagen, dass die Absicht, die lebensgeschichtliche Perspektive bei der Verarbeitung von Arbeitslosigkeit einzubeziehen, schon bei der Marienthal-Studie in der Konzeption der Studie da war?

Ja, Charlotte Bühler… Wissen Sie, es ist alles so lange her, und das Gedächtnis ist eine zweideutige Einrichtung: Man konstruiert zu viel in der Gegenwart. Aber Charlotte Bühler muss ganz bestimmt lange vor dem Erscheinen ihres Buches über den menschlichen Lebenslauf in den Seminaren gesprochen haben. So ein Einfluss war da. Für mich ist er aber erst nach der Marienthal-Studie aktuell und bedeutend geworden, in einer versuchsweise systematischen Art.

Ist die Marienthal-Studie methodisch als primitiv zu bezeichnen?

Nein, obwohl sie nicht viel anderes enthält als hie und da ein paar Percentage. Was an der Methode gut war, war die Vielseitigkeit, das Gefühl, dass man sich auf einen Test, auf einen Fragebogen oder auf eine Beobachtung nicht verlassen kann, sondern dass man einen Zugang von allen Seiten braucht. Das ist noch heute relativ selten, und das war gut an der Methode. Obwohl: Paul Lazarsfeld hat sich durch Jahre hindurch gegen eine englische Übersetzung gewehrt, weil ihm die Statistik zu primitiv gewesen ist. Ich glaube nicht, dass ich selbst damals mehr über Statistik gewusst habe als Prozente und Durchschnitte und solche Sachen.

War dieser Versuch, Marienthal von allen Seiten zu betrachten, wirklich geplant oder ist der daraus erwachsen, dass man es mit einem Dorf zu tun hatte, das sich sozusagen als Gestalt einfach aufdrängte, wiedergegeben zu werden?

Ich glaube, es waren verschiedene Faktoren. Der vielleicht wichtigste war die intellektuelle Neugierde, die wir an der Universität und in der Politik erworben hatten. Das brachte mit sich, dass man auf das Gesamtbild und auf den Einzelnen schauen muss. Das kam von dieser komplexen intellektuellen Vorbereitung. Aber natürlich war es auch darauf zurückzuführen, dass die Gruppe relativ groß war. Ich glaube, wir waren zwölf oder vierzehn Leute, die aktiv gearbeitet haben. Und diese kamen zum Teil von der Psychologie, vom Bühler-Institut. Aber der Hans Zeisel hat Jus studiert, und da waren auch Nationalökonomen, da waren auch Ärzte beteiligt, so dass die verschiedenartige Vorbildung der Teilnehmer das Interesse erweitert hat. Aber trotzdem glaube ich, dass der Versuch, das Psychologische und das Soziologische zu verbinden, von unserem Doppelleben in der Universität und in der Politik herrührte.

War eigentlich Lotte Schenk-Danzinger damals auch in der Sozialdemokratie aktiv oder kam die nur über das Bühler-Institut zur Gruppe?

Die Lotte: War sie eine Nazi während…?[6]

Angeblich nicht. Sie wurde schon von verschiedenen Leuten kontaktiert, weil sie im Vorwort erwähnt ist, und sie will nicht darüber reden. Ich habe gehört, sie wüsste nichts.

Ja, sie hat, fürchte ich, ein großes Ressentiment gegen die Hauptbeteiligten an der Studie. Worauf das zurückzuführen ist, ist schwer zu sagen. Sie war im Psychologischen Institut und eine Kollegin, und es war, da sie Zeit gehabt hat, sehr natürlich, sie mit einzubeziehen. Sie war sicher nicht in der sozialistischen Jugendbewegung aktiv.[7] Ich habe gehört, dass sie diese feindselige Einstellung, diese ablehnende Einstellung gegen die Zusammenarbeit damals erst lange nach dem Krieg hatte. Ich habe mir gedacht, dass sie vielleicht damals schon den sozialdemokratischen Einfluss gespürt und zurückgewiesen hat, aber ich weiß es nicht.

Aber sie hat, was die Arbeit anlangt, eine relativ wichtige Aufgabe gehabt?

Ja, absolut. Und sie hat sie gut durchgeführt. Soweit ich mich erinnere, war sie weniger analytisch eingestellt. Sie hat sich weniger für die Ausarbeitung des Materials interessiert, sondern war mehr an der ordentlichen Vorbereitung und an der Sammlung des Materials sowie an den notwendigen Kontakten beteiligt. Aber sie hat sicher ausgezeichnet gearbeitet. Haben Sie sie je getroffen?

Ich habe sie nicht gesprochen, aber ein Kollege von mir, mit dem ich darüber geredet habe, hat versucht, mit ihr darüber zu reden, und hat auch von anderen dann gehört, sie wolle sich nicht interviewen lassen.

Ja, wissen Sie, die Emigration macht einen verdächtig für viele Leute, die in Wien zurückgeblieben sind. Vielleicht ist es total unbegründet, aber ich habe, wie ich Gelegenheit hatte darüber nachzudenken, das Gefühl gehabt, dass es vielleicht mit ihrem Leben während der Nazizeit zusammenhängt.

Es kann sein, hat mir jemand gesagt, es hinge damit zusammen, dass sie mit jemandem sehr konservativen verheiratet sei und daher nicht erinnert werden wollte, dass sie da irgendwann einmal mit Linken was zu tun hatte.

Ja, ja.

Ob sie bei den Nazis war? Irgendwas Großes war sie sicher nicht.

Nein, nein. Sie war, so weit ich sie kannte – und damals habe ich sie gut gekannt –, ein durchaus anständiger Mensch. Zum Beispiel: Während man in Österreich immer Antisemitisches gehört hat, glaube ich nicht, dass sie in diesen Vor-Hitlerzeiten jemals irgendwas Antisemitisches gesagt oder auch nur gedacht hätte.

[1] D.i. die Sozialpsychologin Lotte Lazarsfeld, verheiratete Bailyn (geb. 1930). Anmerkung R.M.

[2] Vgl. Hildegard Hetzer: Kindheit und Armut. Psychologische Methoden in Armutsforschung und Armutsbekämpfung. Leipzig: S. Hirzel 1929 (= Psychologie der Fürsorge. 1.), XII, 314 S. Anmerkung R.M.

[3] Vgl. die 1938 entstandene, aber erst später publizierte Studie von Marie Jahoda: Unemployed men at work, in: Unemployed people. Social and psychological perspectives. Edited by David Fryer and Philip Ullah. Milton Keynes–Philadelphia, Pa.: Open University Press 1987, S. 1–73. Anmerkung R.M.

[4] Vgl. Marie Jahoda-Lazarsfeld: Anamnesen im Versorgungshaus. (Ein Beitrag zur Lebenspsychologie.) Philosophische Dissertation, Universität Wien 1932, 119 [140] Bl. (Maschinenschrift). Anmerkung R.M.

[5] Vgl. Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Mit 28 Abbildungen im Text und auf einer Tafel. Leipzig: S. Hirzel 1933 (= Psychologische Monographien. Herausgegeben von Karl Bühler. 4.), XVI, 328 S., hier S. 2, Fußnote 1. Anmerkung R.M.

[6] Weder im Leben noch im Werk Lotte Schenk-Danzingers lässt sich ein positives oder ein irgendwie geartetes Naheverhältnis zum Nationalsozialismus belegen. Anmerkung R.M.

[7] Vgl. dazu Lotte Schenk-Danzingers eigene, gegenteilige Aussagen in Ihrem Interview vom 14. Juni 1988. Anmerkung R.M.

© Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich

Stand: Juni 2010

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