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Erinnerungen an Marienthal

Lotte Schenk-Danzinger im Gespräch mit Christian Fleck

Wien, am 14. Juni 1988

Auszugsweise und von Reinhard Müller redigierte Wiedergabe eines Interviews von Christian Fleck mit Lotte Schenk-Danzinger.

Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz), Tondokumente, Signatur T–6.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Christian Fleck, Graz, und dem Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz).

Darf ich damit beginnen, dass Sie mir ein wenig über Ihre Biografie erzählen, vielleicht auch ein bisschen über den familiären Hintergrund, und wie Sie zur Soziologie gekommen sind?

Ich wollte ursprünglich Geschichte und Geografie studieren. Ich habe mich mit einer Lehrerin, die ich sehr gern gehabt habe, sehr identifiziert, eine Lehrerin, die ich in Geschichte hatte. Ich habe dann nach der Matura aber rasch die englische Staatsprüfung gemacht und wollte damit Geld verdienen. Ich habe aus der [sozialistischen] Mittelschülerbewegung einen Kollegen gekannt, dessen Vater ein großes Tier in der Schulverwaltung war, und den habe ich gebeten, seinen Vater zu fragen, ob ich mit meiner englischen Staatsprüfung irgendwas im Schulbereich anfangen kann. Der hat mich also rufen lassen, hat gesagt, ich soll in seine Sprechstunde kommen, und da hat er mir gesagt: »Schauen Sie, mit Englisch allein können Sie nichts anfangen, aber es laufen doch jetzt bei uns die Kurse zur hochschulmäßigen Lehrerbildung.«[1] Das war etwas, was es damals einige Jahre gab und was dann wieder abgewürgt wurde. »Machen Sie so einen zweijährigen Kurs, und dann sind Sie ausgebildete Volksschullehrerin. Dann können Sie alles machen.« Na, ich habe das sofort aufgegriffen, habe mich angemeldet und habe zwei Jahre diese hochschulmäßige Lehrerbildung gemacht. In unserem Programm, man wollte das ja auch irgendwie hochschulmäßig aufziehen, waren die Vorlesungen von Karl Bühler und Charlotte Bühler vorgeschrieben, und die musste man besuchen. Und das war für mich eine Schlüsselerlebnis. Die Vorlesung von Charlotte Bühler: Da habe ich das Gefühl gehabt: das oder nichts. Und so habe ich ganz außer Programm bei ihr ein Kolloquium in Sozialpsychologie gemacht, mit dem Ziel, mit ihr allein sprechen zu können und sie um einen Arbeitsplatz in der Kinderübernahmestelle[2] zu bitten, wo wir damals die praktische Ausbildung gemacht haben. Na, und das ist gelungen. Ich habe dieses Kolloquium bestanden und habe sie um einen Arbeitsplatz gebeten, habe ihn gekriegt und habe dann angefangen, an der Kinderübernahmestelle zu arbeiten: Testen der Kleinkinder und alle diese Sachen, Beobachtungen. Ich war dann in kürzester Zeit ihre Assistentin, und nachdem Hildegard Hetzer nach Königsberg gegangen ist,[3] war ich lange Zeit erste Assistentin. Im Jahre 1935 hat Charlotte Bühler in London ein Institut eingerichtet, The Parents’ Association Institute, und da bin ich dann für zwei Jahre nach London und habe dieses Institut geleitet. Sie ist ja immer nur sporadisch gekommen. Und 1937 bin ich dann zurück nach Wien und habe hier geheiratet. Na, und dann war eh bald alles aus. Also, das war mein Einstieg in die Psychologie. Ich habe sehr rasch studiert, habe schon nach acht Semestern mein Doktorat gehabt, nicht, und meine Dissertation war eigentlich ein sozialpsychologisches Thema. Die Hetzer hat damals diese Arbeiten über »Kindheit und Armut« gemacht, und in diesem Rahmen entstand meine Dissertation »Pflegemutter und Pflegekind«.[4] Das ist dadurch möglich gewesen, dass man in der Kinderübernahmestelle die Pflegemütter, die dort hingekommen sind, um sich Kinder zu holen, zu mir geschickt hat, und ich konnte dann mit denen ein Interview machen: Gründe, warum sie sich ein Kind nehmen und was sie sich für Vorstellungen machen, wie das Kind sein soll und was für Erfahrungen sie mit Pflegekindern schon haben und so weiter. Das war also die Dissertation.

Stand diese Arbeit von Hildegard Hetzer über Armut auch in irgendeiner Beziehung mit der Gemeinde Wien?

Na ja, insofern stand alles in Beziehung mit der Gemeinde Wien, als ja Charlotte Bühler nur über ihre Beziehungen zum damaligen Stadtrat [Julius] Tandler[5] und zu dessen Freundin,[6] die Chefärztin an der Kinderübernahmestelle war, überhaupt in der Kinderübernahmestelle arbeiten durfte. Die Kinderübernahmestelle war für uns insofern sehr günstig, als da – für die Kinder furchtbar! – Glasfenster waren; es waren Glaskäfige, in denen man die Kinder gehalten hat, und man konnte durchschauen. Es war im Großen und Ganzen eine Quarantänestation. Wir konnten auf den breiten Gängen mit den Studenten alles beobachten, was die Kinder drinnen gemacht haben. Das war für uns sehr günstig, nur für die Kinder war es furchtbar. Also das war eine Zusammenarbeit mit Beziehungen zur Gemeinde Wien. Es gab noch eine Beziehung zur Gemeinde insofern, als Karl Bühler nicht nur Universitätsprofessor war, sondern auch einen Vertrag über Vorlesungen am Pädagogischen Institut der Stadt Wien hatte. Und das Institut überhaupt war im Gebäude des Stadtschulrates untergebracht, wo wir damals ein ganzes Stockwerk gehabt hatten.

Darf ich noch was zum sozialen Hintergrund fragen: Sie haben ganz am Anfang die Mittelschülerbewegung erwähnt.

Ja, also ich war in der sozialistischen Mittelschülerbewegung.

Wie stark war die intellektuelle Prägung durch diese Schülerbewegung und durch die ganze Jugendbewegung?

Das ist schwer zu sagen. Wie soll ich das beschreiben? Man war begeistert, natürlich, man war stark engagiert.

Und das Interesse an wissenschaftlichen Fragen, wodurch wurde das ausgelöst? Oder kam das auch aus dieser pädagogischen Begeisterung?

Nein, ich glaube, das Interesse an wissenschaftlichen Fragen war gar nicht so ausgeprägt. Wir waren schon sehr auf die Praxis orientiert. Aber wie soll ich das sagen? Durch die Vorlesungen hat sich eine wissenschaftliche Art des Denkens eingestellt. Und vielleicht war man, indem man versucht hatte, der ganzen Ausbildung einen echt hochschulmäßigen Charakter zu geben, an theoretischen Einstellungen mehr interessiert als in der heutigen Lehrerausbildung. Und dann war es ja so, dass man natürlich alle diese Neuerungen wissenschaftlich begründen wollte. Man hat sie also von der Kinderpsychologie her zu begründen versucht.

Ich war vorher, also während meiner Mittelschulzeit, bei den Pfadfinderinnen. Ich war auch eine Zeit lang Führerin in so einer Pfadfindergruppe. Und da war ich natürlich schon angesteckt von diesen Ideen der Selbstständigkeit, der Loslösung von den Eltern und so weiter. Ich habe selbst keine Probleme gehabt, weil ich von zu Haus aus keine Beschränkungen gehabt habe. Ich habe immer gemacht, was ich wollte. Aber da war natürlich die Idee der Ablösung von den verzopften Ideen: Wir sind jung, die Welt ist offen und so weiter.

War die Aktivität in dieser Schülerbewegung auch mit Generationskonflikten verbunden, mit politischen Konflikten?

Sicher in vielen Fällen. Aber die meisten Kollegen, die ich in dieser sozialistischen Mittelschülerbewegung hatte, waren die Kinder von Sozialisten. Wissen Sie, die hatten insofern keine Schwierigkeiten, als sie sozusagen in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten sind.

War das die Regel?

Ich würde sagen, ja. Es waren also sehr viele. Die meisten, an die ich mich erinnern kann, waren die Kinder von irgendwelchen Funktionären oder so.

Darf ich fragen, was Ihre Eltern waren?

Mein Vater war Apotheker.[7] Er hat aber eine Drogerie gehabt, und meine Mutter hat im Geschäft mitgearbeitet. Und nach seinem Tod – er war dann im Weltkrieg eingerückt – hat meine Mutter das Geschäft selbstständig weitergeführt und hat eine eigene Konzession als Belohnung bekommen. Nachdem mein Vater relativ früh an einem Schlaganfall gestorben ist, hat meine Mutter das Geschäft selbstständig geführt. Ich habe mit meinen Eltern nur damit Schwierigkeiten gehabt, dass mein Vater wollte, dass ich das Geschäft übernehme. Ich wollte aber studieren. Und das war der einzige Konflikt, den ich zu Hause hatte. Aber sonst gab es keine Probleme.

Diese Lehrerausbildung war dann Ihr Kompromiss zwischen Studium und Beruf?

Na ja, es war eigentlich ein Versuch, möglichst bald finanziell selbstständig zu werden. Es hat sich dann aber so entwickelt, dass ich zwar diese Lehrerbildung abgeschlossen habe, dass ich aber mit dem Institut, mit Charlotte Bühler, schon eng verwickelt war. Ich wurde dann im Rahmen eines Rockefeller-Stipendiums angestellt, so dass ich keine finanziellen Probleme mehr hatte. Wir waren für die damaligen Verhältnisse sehr gut bezahlt: für eine Halbtagsarbeit 500 Schilling. Das war damals sehr viel Geld, so dass ich keine finanziellen Probleme gehabt habe. Vom Stadtschulrat hat man mich dann gefragt: »Wollen Sie sich denn nicht als Lehrerin anstellen lassen?« Man hat schon die faschistische Zeit kommen sehen, wo ich dann mit meiner sozialistischen Mittelschülervergangenheit nicht mehr drangekommen, nicht mehr hineingekommen wäre. Ich habe also gesagt: »Nein, ich kann nicht weg von den Bühlers.« Und dann bin ich weg, bin ich also nach London auf zwei Jahre, bin 1937 zurückgekommen, habe geheiratet und habe dann nicht mehr gearbeitet. Ich habe Kinder gehabt und war also im Krieg mit den Kindern evakuiert in Tirol.

Standen Sie außer mit den Bühlers noch mit irgend jemandem an der Universität in einem engeren Verhältnis?

Nein. Ich habe also angefangen, Geschichte und Geografie zu studieren, bin dann sehr bald draufgekommen, dass ich für Geografie völlig ungeeignet bin und bin dann zur Psychologie übergegangen und habe Geschichte nur als Nebenfach gehabt.

Sie haben früher Paul Lazarsfeld erwähnt. Welche Rolle hat er da eigentlich gespielt?

Na ja, er war Assistent für Statistik. Er war ja Mittelschullehrer für Mathematik und hat lange Zeit neben seiner Tätigkeit am Institut auch noch als Mathematiklehrer an einer Mittelschule gearbeitet. Und dann ist er freigestellt worden und war ganz am Institut. Der war eigentlich unser Statistiker. Also wenn wir irgendwelche Zahlen gehabt haben, haben wir nie was selber gerechnet. Wir haben gesagt: »Du, ich habe die Zahlen da, rechne mir das durch, schaue, was da rauskommt.« Da hat er das gemacht. Er hat sich aber dann aus welchen Gründen immer – ich weiß sie nicht – auf diese Wirtschaftspsychologie geworfen. Wir haben da gemeinsam zum Beispiel eine große Erhebung für die Anker-Brotfabrik gemacht.[8] Aufgrund unserer Publikumsbefragungen – da war ich auch dabei – ist dann dieses große Plakat gekommen: »Worauf freut sich der Wiener, wenn er vom Urlaub kommt? Auf Hochquell Wasser und Ankerbrot.«[9] Der Werbeslogan war ein Werbeslogan von ihm, den er aufgrund unserer Publikumsbefragung gemacht hatte. Er hat dann auch für eine Schuhfabrik und für eine Ofenfabrik Publikumsbefragungen gemacht, so, wie man das auch heute noch macht. Er hat dafür eine eigene kleine Abteilung gehabt, für diese Wirtschaftspsychologie. Er hat aber auch diese große Arbeit über die Arbeitslosen in Marienthal gemacht: Das war schon richtig Sozialpsychologie. Er hat das mit seiner ersten Frau gemacht, von der er dann geschieden wurde: Marie Jahoda.

Wien 1932, 34 X 37 cm (© Copyright)

Quelle: Reinhard Müller (Graz)

Waren Sie an diesen Aktivitäten, diesen Umfragen beteiligt?

Ja. Die waren also von Firmen bezahlt. Lazarsfeld hat da ein eigenes kleines Institut für Forschungen, für Wirtschaftspsychologie gehabt, das er initiiert hatte.

Sie waren da auch beteiligt?

Ja. Ich bin bezahlt worden für die Erhebungen, so wie heute die Studenten dafür bezahlt werden. Ich war zwar damals keine Studentin mehr, aber ich habe das Geld auch ganz gern gehabt, dafür, dass man also die Fragebogen mit den Leuten machte und ablieferte.

Und Marienthal?

Ich habe eine Zeitlang als Interviewer gearbeitet, aber nicht sehr lange. Ich habe ein paar Interviews gemacht, aber nicht viele.

Aber da muss offensichtlich eine sehr große Gruppe beteiligt gewesen sein?

Es war eine nicht sehr große Gruppe.

Nicht sehr groß?

Nein, nicht sehr groß. Ich glaube, sechs vielleicht, sechs oder sieben Leute. Ich glaube, die Gruppe war nicht sehr groß, nur: Ich weiß es nicht genau.

Können Sie sich erinnern: Wie ist es dazu überhaupt gekommen? Das ist doch von der Sozialpsychologie noch ein Schritt weiter: Arbeitslosenforschung.

Ja, na ja, Lazarsfeld war wirklich sehr kreativ.

Weil Sie Lazarsfeld erwähnen: Paul Lazarsfeld dankt Ihnen in seinem Vorwort zur Marienthal-Studie. Da erwähnt er Sie als eine der Mitarbeiterinnen besonders.

Na ja, ich habe eine Zeitlang dort gewohnt und habe ein paar Interviews gemacht. Aber ich habe es sehr gehasst.

Ja?

Ja, ich habe es sehr gehasst. Und dann haben sie mich aufgefordert mitzuarbeiten, und ich wollte nicht. Ich weiß nicht, ich war irgendwie angefressen. Und es gab auch etwas anderes, nicht: Die Beziehung zu meinem späteren Mann hat sich verdichtet und so weiter. Also, ich habe auch persönliche Gründe gehabt. Ich habe einfach nimmermehr wollen. Und das war aber eigentlich ganz gut, denn die meisten Leute, die in Marienthal mitgearbeitet hatten, haben nachher Schwierigkeiten gehabt. Ich habe keine gehabt. Das konnte ich ja nicht voraussehen, aber ich habe also keine Schwierigkeiten gehabt. Und die hätte ich auch gar nicht brauchen können, mit kleinen Kindern, nicht.

Sie haben in Marienthal gelebt?

Ja, ich habe ein grässliches, furchtbares Zimmer gehabt, fürchterlich. Das war eine Woche oder zehn Tage vielleicht.

Aber in dieser Zeit waren Sie sozusagen rund um die Uhr im Einsatz?

Ja. Ich bin halt in der Früh ausgezogen, habe ein paar Interviews mit verschiedenen Familien gemacht und habe das dann am Nachmittag aufgeschrieben. Das musste ja abgeschrieben werden. Man konnte vor den Leuten ja nicht schreiben, sonst hätten sie ja sofort aufgehört. Man musste Gedächtnisprotokolle machen. Aber das alles dauerte nicht lang. Es waren nach mir und auch schon vorher Leute dort in Marienthal.

Und diese Interviews: Waren die schwierig mit den Leuten?

Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe das sehr verdrängt, ich habe das nicht leiden können. Ich habe das sehr verdrängt. Aber, mein Gott, ich komme leicht aus mit Leuten. Die waren ganz freundlich. Ich meine, es war niemand, der einen zurückgewiesen hätte oder so.

Warum konnten Sie das nicht leiden?

Weiß nicht, ich weiß nicht. Erstens, weil ich an sich Leute sehr ungern ausfrage. Ich habe immer ein bisschen Hemmungen und ein unangenehmes Gefühl: Was geht mich das an und so weiter? Aber ich habe mitgemacht, weil es mich zuerst interessiert hat; aber dann nicht mehr. Dann habe ich bei der Auswertung nichts mehr gemacht. Sie haben mich schon eingeladen dazu, aber ich habe nicht wollen.

Und Marie Jahoda?

Na ja, sie war schon daran beteiligt, vor allem an der Auswertung, aber auch an der Befragung. Sie war also eine Zeit lang dort.

Ja, und der dritte Autor: Hans Zeisel?

Der ist dann auch emigriert, aber ich weiß nicht mehr, was aus ihm geworden ist. Aber ich glaube, der war wieder in Wien. Da war irgendeine Veranstaltung mit den Leuten, die also emigriert sind: »Vertriebene Vernunft«.[10] Da habe ich gelesen – ich war nicht dort –, dass er da war.

Aber damals, in der Zeit vor 1934, da war er nicht im Bühler-Institut?

Er war nicht im Bühler-Institut, er war bei Lazarsfeld, in dieser Gruppe, dieser sozial- und wirtschaftspsychologischen Forschungsgruppe.

Und die war auch räumlich irgendwie getrennt von dem Psychologie-Institut?

Ich weiß gar nicht. Ich glaube schon, dass sie im Institut ein Zimmer gehabt haben, aber ich weiß es nicht genau. Aber ich weiß, wir haben uns eigentlich immer dort getroffen, wenn irgendwas war.

Im Bühler-Institut?

Ich glaube, es war dort. Die sind ja dann in die Liebiggasse übersiedelt, und da war ja mehr Platz.

[1] An dem im Januar 1923 eröffneten Pädagogischen Institut der Stadt Wien, welches der Fortbildung der Lehrer und Lehrerinnen sowie der Vorbereitung auf die Lehrbefähigungsprüfung für Volksschulen und die Prüfung für die einzelnen Fachgruppen der Bürgerschulen diente, wurde seit dem Jahrgang 1925/26 der Hochschulmäßige Lehrerbildungskurs – in Zusammenarbeit mit der Universität Wien – durchgeführt. Zu den Lehrenden zählten unter anderem der Individualpsychologe Alfred Adler (1870–1937), der Soziologe und Philosoph Max Adler (1873–1937) sowie der Staats- und Rechtswissenschaftler Hans Kelsen (1881–1973). 1926/27 und 1927/28 besuchte auch Lotte Schenk-Danzinger – also zeitgleich mit Marie Jahoda – den Hochschulmäßigen Lehrerbildungskurs des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien. Anmerkung R.M.

[2] Kinderübernahmestelle: von der Stadt Wien getragenes Asyl für verlassene Kinder, das im Juni 1925 seinen Betrieb aufnahm. In einem neu errichteten Bau in Wien 9., Lustkandlgasse 50, wurden alle der Gemeinde zur Fürsorge übergebenen Säuglinge, Kinder und Jugendlichen aufgenommen, beobachtet, und erst danach erfolgte die Einleitung weiterer Fürsorgemaßnahmen. Nach einem Umbau 1964/65 wurde die Kinderübernahmestelle schließlich 1985 mit anderen Einrichtungen des Jugendamts zum Julius-Tandler-Familienzentrum der Stadt Wien fusioniert. Anmerkung R.M.

[3] Hildegard Hetzer arbeitete nie in Königsberg (Kaliningrad / Калининград, Russland). Anmerkung R.M.

[4] Vgl. Hildegard Hetzer: Kindheit und Armut. Psychologische Methoden in Armutsforschung und Armutsbekämpfung. Leipzig: S. Hirzel 1929 (= Psychologie der Fürsorge. 1.), XII, 314 S.; vgl. Charlotte Danziger: Pflegemutter und Pflegekind. Philosophische Dissertation, Universität Wien 1929 (Maschinenschrift). Anmerkung R.M.

[5] Julius Tandler (1869–1936): österreichischer Anatom und sozialdemokratischer Sozialpolitiker österreichisch-tschechischer Herkunft; Dr. med.; 1895 bis 1899 Assistent an der I. Anatomischen Lehrkanzel der Universität Wien; 1899 habilitiert für Anatomie; 1902 bis 1910 außerordentlicher Universitätsprofessor und 1910 bis 1934 ordentlicher Universitätsprofessor der Anatomie an der Universität Wien; 1919 bis 1933 Gemeinderat der Stadt Wien; 1919 bis 1920 Unterstaatssekretär für Volksgesundheit; 1920 bis 1934 Amtsführender Stadtrat für Wohlfahrtseinrichtungen, Jugendfürsorge und Gesundheitswesen der Stadt Wien; einer der bedeutendsten Repräsentanten der Gesundheits- und Fürsorgepolitik des »Roten Wien«; seit 1933 aus gesundheitlichen Gründen auf Urlaub, 1934 aus politischen Gründen inhaftiert sowie als Universitätsprofessor und Stadtrat amtsenthoben; nach internationalen Protesten aus der Haft entlassen; 1934 bis 1935 Lehrtätigkeit in den USA (New York University Medical School) und 1935 bis 1936 Berater in Gesundheitsfragen in China (Nanking); 1936 Einladung in die Sowjetunion zur Reformierung des Medizinstudiums sowie zur Reorganisation von Ambulatorien und Spitälern; verstarb im Exil in Moskau (Москва). Anmerkung R.M.

[6] D.i. Gertrud Bien (1881–?): Wiener Ärztin und Psychologin; Dr. med.; eine der ersten Frauen, die an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien promoviert wurden (1906); Chefärztin an der Kinderübernahmestelle in Wien. – Für die Entschlüsselung der Person danke ich Gerhard Benetka (Wien). Anmerkung R.M.

[7] Die Eltern Lotte Schenk-Danzingers waren Leo Erwin Danziger (1878–1937) und Pauline, geborene Köstler (1880–1968). Anmerkung R.M.

[8] Die Erhebung erfolgte bereits im Rahmen der 1931 gegründeten »Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle« in Wien. – Die Ankerbrotfabrik geht auf die 1891 gegründete »Wiener Brot- und Gebäckfabrik H(einrich) & F(ritz) Mendl« zurück, die als Logo den Anker – Symbol des Vertrauens und der Sicherheit – führte, 1906 in »Ankerbrotfabrik« umbenannt und 1922 in die »Ankerbrot-Aktiengesellschaft« umgewandelt wurde. 1893 wurde die Fabrik auf den heutigen Standort, Wien 10., Absberggasse, verlegt und entwickelte sich rasch zu einem der größten Unternehmen der Branche. 1922 in eine Familien-Aktiengesellschaft umgewandelt, wurde das Unternehmen 1938 »arisiert«. Seit 1997 ist das einstige Wiener Paradeunternehmen in deutschem Besitz. Anmerkung R.M.

[9] Das Wiener Trinkwasser (Hochquellwasser) zeichnet sich durch eine außerordentlich gute Qualität aus; bereits 1873 wurde die Erste Hochquellenleitung (bis 1922: Erste Kaiser-Franz-Joseph-Hochquellenleitung) eröffnet, die Wasser vom Fuß des niederösterreichischen Schneeberg nach Wien transportierte; zahlreiche Eingemeindungen und der allgemein gestiegene Wasserbedarf machten es notwendig, die Zweite Hochquellenleitung zu errichten, die 1910 in Betrieb ging; dieses Wasser kam von den Hängen des steirischen Hochschwab. Anmerkung R.M.

[10] Hans Zeisel nahm an der Tagung »Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940« in Wien, Oktober 1987, teil. Anmerkung R.M.

© Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich

Stand: Juni 2010

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