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Christian Fleck
Marienthal. Die Polizei beobachtet die Sozialforscher, die die
Auswirkungen der Arbeitslosigkeit beobachten
Eine
Vorbemerkung
in:
Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter
(Graz), Nr. 16 (Dezember 1997), S. 3–7, hier die Vorbemerkung S. 3–4.
Siehe auch die
neu transliterierten Originaldokumente.
Die
Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung
von
Christian Fleck (geb. 1954),
Graz.
Beachten Sie das
Copyright!
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Marienthal
Die Polizei beobachtet die
Sozialforscher, die die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit beobachten
Eine
Vorbemerkung
Die folgenden drei
hier abgedruckten Aktenstücke erhielt das »Archiv für die Geschichte der
Soziologie in Österreich« von
Klaus Taschwer (Wien), der die Kopien
dieser Dokumente von einem Wiener Rechtsanwalt bekommen hatte. Es konnte
nicht festgestellt werden, aus welchem Archiv sie stammen. Zu vermuten
ist, daß sich die Originale im Niederösterreichischen Landesarchiv
befinden.
Im semidokumentarischen Film von
Karin Brandauers
»Einstweilen
wird es Mittag« gibt es eine kleine Szene, in der
der Dorfgendarm von Marienthal über seine Beobachtung der Wiener
Sozialforscher Bericht erstattet. Die nachfolgend wiedergegebenen
Dokumente bestätigen, daß diese Szene nicht erfunden wurde. In den
publizierten Erinnerungen und unveröffentlichten Interviews von
Paul F. Lazarsfeld,
Marie Jahoda,
Hans Zeisel und
Charlotte Danzinger
über »Marienthal« fand diese Episode keine Erwähnung. Die Beobachtung
der Beobachter blieb ihnen verborgen. Erst anläßlich der
Hausdurchsuchung in den Räumlichkeiten der »Wirtschaftspsychologischen
Forschungsstelle« in der Wächtergasse 1 im I. Wiener Gemeindebezirk im November 1936 machten Mitarbeiter der
Forschungsstelle die Bekanntschaft mit der Polizei des Ständestaates.
Die politisch weniger Aktiven unter den »Rechercheuren« der
Forschungsstelle, wie beispielsweise Ernst Dichter, erlebten ihre
zeitweilige Verhaftung als aus heiterem Himmel kommend. Andere, wie die
in der nach dem Februar 1934 verbotenen sozialdemokratischen Bewegung
aktive Marie Jahoda, führten ihre Inhaftierung zurecht auf ihre illegale
politische Tätigkeit zurück. In den wochenlangen Verhören gelang es
Jahoda immer wieder, den Vernehmungsbeamten, einen Dr. Stegerwald,
darüber zu täuschen, welches der beschlagnahmten Materialien nun
wissenschaftlicher Natur und welches illegaler politischer Provenienz
war. Stundenlang stritten die beiden über den Inhalt einer
beschlagnahmten Mappe mit der Aufschrift »Denkgewohnheiten« und den
darin gefundenen »stenographischen Vormerkungen, ›Was ist Soz.‹, ›was
bringt dieser Zustand‹, ›Wie Soz. geworden‹«. Der Polizist wollte das
unbedingt als politisches Agitationsmaterial betrachtet wissen,
wohingegen
[Marie] Jahoda darauf beharrte, daß es Vorarbeiten zu einer Studie im
Auftrag von Max Horkheimer seien. Hingegen akzeptierte Stegerwald
Statistiken über die Ergebnisse von Betriebsratswahlen in Wiener
Großbetrieben als wissenschaftliches Material, obwohl sich auf einem der
Blätter das Kürzel »Z.K.« (wohl für »Zentralkomitee der Revolutionären
Sozialisten«) befand.
Der hier bemühte Gerichtsakt enthält
natürlich auch Hinweise auf frühere politische Aktivitäten Jahodas und
anderer, es fehlt darin aber jeder Hinweis auf die Observation der
Feldforschung in Marienthal.
Die hier abgedruckten Dokumente sind in
zweierlei Hinsicht von Interesse. Zum einen liefern sie den Beweis
dafür, daß Sozialforschung schon in der rechtsstaatlichen Phase der
Ersten Republik die Aufmerksamkeit des Polizeiapparats erregte, handelt
es sich hier doch nicht nur um den Bericht des eifrigen
Gendarmerie-Postenkommandanten Johann Gründl (Dokument 1), sondern auch
um Dokumente über ergänzende Erhebungen der zuständigen
Bezirkshauptmannschaft (Dokument 2) und der Bundes-Polizeidirektion Wien
(Dokument 3). Drei Punkte erscheinen daran bemerkenswert: Die von der
Bezirkshauptmannschaft gewählte Formulierung, es möge festgestellt
werden, »ob es sich hier etwa um eine politische Agitation unter dem
Deckmantel einer wissenschaftlichen Aktion der Universität handelt«,
verweist auf Defizite an Rechtsstaatlichkeit: Ist es denn illegitim,
politische Agitation zu betreiben? Sind die Sicherheitsbehörden eines
Rechtsstaates – und als solchen betrachtete sich die Republik Österreich
1931 noch – befugt, derartige Agitation zu observieren? Ob die Ab- bzw.
Mithörung eines Telefonats, das Lotte Danzinger »am Samstag, den
12.12.1931 nachmittags« noch dazu mit jemandem führte, der über eine
Geheimnummer verfügte, erfolgte, um das »nicht ausschliesslich dem
Studium der Arbeitslosen« gewidmete Tun festzustellen, oder ob es schon
aus Sorge um eine mögliche »politische (kommunistische) Propaganda«
erfolgte, ist unklar. Eine Verletzung der Privatsphäre war es
jedenfalls.
Aufschlußreich ist weiters das merkwürdige
Verständnis der sozialen und normativen Struktur von Wissenschaft, das
in den Dokumenten zutage tritt. In dem »streng vertraulich(en)«
Schreiben der Bundes-Polizeidirektion wird der »wissenschaftliche Zweck«
der »praktischen Studien« deswegen anerkannt, weil sie »tatsächlich
[…] im Auftrage des erwähnten [d.i. Psychologischen;
4
C.F.] Institutes«
erfolgten und weil dem Institutsleiter
Karl
Bühler »ueber die hiebei erzielten Forschungsergebnisse
[…] Berichte vorgelegt« wurden. Wären die »angeblich Studierenden des
Psychologischen-Institutes« weniger glimpflich davongekommen, wenn sie
keinen professoralen Mentor gehabt hätten? Die Forderung des Gendarmen,
die Sozialforschung aus »sicherheitspolizeilichen […] Gründen […]
behördlich autorisiert« zu sehen, weist ihn jedenfalls als einen aus,
der mit der polizeiwissenschaftlichen Tradition des aufgeklärten
Absolutismus intim vertraut war.
Schließlich ist die pädagogische Kompetenz
und Sorge des »Postenkommando(s)« erwähnenswert. Über die Vorträge über
Erziehungsfragen (siehe dazu: »Die Arbeitslosen von Marienthal«,
Neuausgabe 1975, S. 30) weiß der Gendarm zu berichten, daß nach Ansicht
von »freizügigen, zünftigen Erziehern« dabei Meinungen geäußert wurden,
die »als ›selbst für künftige Geschlechter verfrüht‹ bezeichnet wurden«.
Andererseits
enthalten die Beobachtungen der Sicherheitsbehörden einige Informationen
über die Feldforschung in Marienthal, die bislang nicht bekannt waren
oder für die man sich bisher nur auf die Erinnerungen der Beteiligten
stützen konnte.
In »Marienthal«
wurde über die Erhebung nur mitgeteilt, daß sie im Herbst 1931 begann
und daß
Lotte Danzinger von Anfang Dezember bis Mitte Jänner 1932 in
Marienthal wohnte; insgesamt seien 120 Arbeitstage dort verbracht worden
(»Die Arbeitslosen von Marienthal«, Neuausgabe 1975, S. 30). An anderer
Stelle berichtet Paul F. Lazarsfeld über die Rolle von
Otto Bauer bei der Wahl des
Themas (»Eine Episode«, S. 214), und Marie Jahoda berichtet über dessen
Empfehlung des Untersuchungsortes (»Die Arbeitslosen von Marienthal«,
München 1991, S. 119).
Dem Gendarmen
verdanken wir den Hinweis, daß auch Oskar Helmer, Exponent des rechten
Flügels der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« und damals
niederösterreichischer Landeshauptmannstellvertreter, ein
Empfehlungsschreiben verfaßte.
Die wenigen
Informationen, die »Marienthal« über die Kriminalitätsentwicklung in
diesem Dorf enthält (siehe über Anzeigen S. 63) resultierten offenkundig
aus der Nichtkooperation des Gendarmeriepostens, der die Sozialforscher
»mit ihrem Begehren an die Dienstbehörde« verwies.
Schließlich sind
die Hinweise auf die Zahl von fünfzehn an der Feldforschung beteiligten
»Studenten«, die namentliche Erwähnung von
Gertrud Wagner und
Walter Wodak (siehe dazu »Diplomatie zwischen Parteiproporz und
Weltpolitik. Briefe, Dokumente und Memoranden aus dem Nachlaß Walter
Wodaks 1945–1950, hrsg. und eingeleitet von Reinhold Wagnleitner«,
Salzburg 1980), die zugeschriebene politische Orientierung von
Lotte Danzinger und die aktive Rolle
Karl Bühlers zwar nicht gänzlich neu,
aber eine Bestätigung bislang eher vager Angaben in der
Memoirenliteratur.
Während der im
engeren Sinn wissenschaftshistorische Wert der im folgenden im Wortlaut
wiedergegebenen Dokumente eher gering zu veranschlagen ist, ist die
darin deutlich werdende polizeiliche Observationen vermeintlicher
»politischer Agitation unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen
Aktion der Universität« doch ein bemerkenswertes Dokument
österreichischer Zeit- und Wissenschaftsgeschichte.
Christian Fleck
(Graz)

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