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Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1919
1919
Seit Januar 1919 wird das
1915 eröffnete »k(aiserlich) k(önigliche)
Barackenlager Mitterndorf« aufgelassen. Man versucht, die Menschen in ihre meist vollständig zerstörten Heimatorte zurückzuschicken, doch
einige der Zwangsausgesiedelten verbleiben im Lager. Diese Bewohner, welche in den etwa 30 Baracken auf ehemaligem Gramatneusiedler Boden leben, sind bis
1937 ein
Zankapfel zwischen den Gemeinden
Mitterndorf an der Fischa
(Niederösterreich), Moosbrunn (Niederösterreich) und Gramatneusiedl.

1919
Ein zentrales Thema des seit April 1919 massiv geführten Wahlkampfes für die in
Niederösterreich
bevorstehenden Landtags- und Gemeinderatswahlen ist in Gramatneusiedl die Frage der
1918 vom
Gemeinderat beantragten Abtrennung Marienthals von Gramatneusiedl.

1919
Am 4. Mai 1919 finden in
Niederösterreich
(einschließlich Wien) Landtagswahlen statt:
Die Sozialdemokraten erhalten 64 (in Wien 44, in Niederösterreich-Land 20), die
Christlichsozialen 45 (in Wien 19, in Niederösterreich-Land 26), die Deutschnationalen 8 (in Wien 2, in Niederösterreich-Land 6) und die Tschechen 3 (alle in Wien) Mandate. In Gramatneusiedl
gibt es 746 Stimmen für die Sozialdemokraten (75,2 Prozent), 241 für die Christlichsozialen (24,3 Prozent) und 5 für die Deutschnationalen (0,5 Prozent).

1919
Mit Gesetz vom 15. Mai 1919 beschließt die Konstituierende Nationalversammlung Österreichs das Gesetz betreffend die Errichtung von Betriebsräten mit Rechtswirksamkeit vom 28. Mai. Kurz darauf wird auch in der
Textilfabrik Marienthal ein
Betriebsrat eingeführt, welcher die zahlreichen, meist kleinen Arbeitskämpfe der nächsten Jahre organisiert. Die Lage der Textilfabrik Marienthal bleibt zunächst prekär, und die Arbeitslosigkeit beträgt 1919 in Gramatneusiedl
(einschließlich seiner Teile in Marienthal) 23 Prozent.

1919
Mit
Beschluss des Volksrats der Stadt Mödling (Niederösterreich) vom 26. Mai
1919 wird der Freien Gemeinde Gramatneusiedl erlaubt, elektrischen Strom
aus dem städtischen Elektrizitätswerk in
Mitterndorf an der Fischa
(Niederösterreich) zu beziehen. Das Projekt wird allerdings nicht
realisiert.

1919
Im Juni 1919 werden christlichsoziale Gemeinderäte von der
Gemeindevertretung von Gramatneusiedl
beauftragt, bei der Bauernschaft nach Schlachtvieh für die hungernde Bevölkerung zu suchen.

1919
In den Sommerferien 1919 gibt es für Schüler und Schülerinnen der
Allgemeinen Volks- und Bürgerschule Gramatneusiedl eine »Amerikanische Lebensmittelaktion«, bei der 312 Kinder beschenkt werden. Daneben erfolgt in den Jahren 1919 und 1920 auch die »Amerikanische Ausspeiseaktion«, bei der bis zu 274 Kinder täglich
verpflegt, das heißt, ein Mal pro Tag mit von den Vereinigten Staaten von Amerika bereitgestellten Nahrungsmitteln verköstigt werden. US-Amerikaner spenden außerdem der
Textilfabrik Marienthal eine große Menge Wolle, damit der Betrieb aufrecht erhalten und die Arbeiter und Arbeiterinnen weiterhin hier
ihren Lebensunterhalt verdienen können. Die Fabrikleitung ihrerseits schenkt der Gemeinde etwa 10.000 Kronen für Lebensmittel und Heizmaterial.

1919
Bei den Gemeinderatswahlen am 22. Juni 1919 gewinnen in Gramatneusiedl die Sozialdemokraten die absolute Mehrheit und sind die dominierende politische Partei in Gramatneusiedl,
ausgenommen die Verbotsjahre der Partei
1934 bis 1945. Zwölf sozialdemokratische Mandatare stehen nunmehr vier christlichsozialen gegenüber.
Bis
2010
verfügen die Sozialdemokraten über die absolute Mehrheit im Gemeinderat
von Gramatneusiedl.

1919
Am 10. Juli 1919 wird der erste Gemeinderat Gramatneusiedls aufgrund einer allgemeinen, freien und direkten Wahl gebildet. Zum Bürgermeister wird der Weber und Textilfabrikbeamte Josef Bilkovsky
(1871–1940) gewählt
(Wiederwahl
1921; zum Vorgänger siehe
1918), zum Vizebürgermeister (bis 1921) der Oberlehrer Ferdinand Wilhelm Liebhart (?–1925) und zum Kassier beziehungsweise Finanzreferenten (bis 1930) der Textilarbeiter
Rudolf Theuer (1876–1940). Der Gemeindevertretung gehört
erstmals auch eine Frau an: die zur Alterspräsidentin gewählte Weberin Karoline Taschke, geborene Palme (1861–1938). Mitglieder der neuen Gemeindevertretung von
Gramatneusiedl sind für die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei« – neben Bürgermeister Josef Bilkovsky – Ferdinand Bleyer (um 1888–1953), Josef Dedek
(1886–1945), Rudolf Grossmann, Anton Hajek, Leo Horna, Ludwig Jilek (1880–1962),
Anton Katzenschlager, Johann Kozel, Ferdinand
Wilhelm Liebhart, Karoline Taschke und Rudolf Theuer, für die »Christlichsoziale Wirtschafts-, Gewerbe-, Hausbesitzer- und Bürgerpartei«
(ein Wahlbündnis aus »Christlichsozialer Partei«,
»Niederösterreichischem Bauernbund« und »Christlichsozialem Volksverband für Niederösterreich«) der Landwirt Franz Griesmüller (1868–1938),
der Fleischhauer Karl Pecha (?–1937), Gustav Reitmayer und der Landwirt Matthias
Spiegelgraber (1865–1939). Als Gemeindesekretär fungiert 1919 bis 1920 der Ferdinand Wilhelm Liebhart. Als Gemeindedienerin wird Johanna Nichtenberger beschäftigt,
als Nachtwächter ihr Ehemann
Johann Nichtenberger.

1919
Anlässlich der konstituierenden Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl am 25. Juli 1919 wird in Sachen »Trennungsangelegenheit Gramatneusiedl–Marienthal« die Rückgängigmachung des Antrags von
1918 mit
elf gegen vier Stimmen beschlossen. So bleibt es dabei, dass Marienthal nie eine eigenständige politische und verwaltungstechnische Einheit wurde, auch wenn es
1921
einen erneuten Anlauf in dieser Sache gibt. ( Dokument.)
In derselben Sitzung wird beschlossen, dem
1908 als »Arbeiter-Fußballriege Marienthal« gegründeten, nunmehr unter dem Namen »I. Marienthaler Fußballriege 1908« (der heutige »ASK Marienthal«) agierenden Verein die Hinterbrühlwiese wie bisher als
Fußballplatz
zu überlassen, wobei die Volkswehr dafür sorgen solle, dass nur auf
diesem Platz gespielt werde. (
Dokument.)
Unter dem Tagesordnungspunkt 18 heißt es: »Da die Bewohner längere Zeit kein Fleisch haben, werden die Herren
(Franz) Grießmüller, (Karl) Pecha u(nd Matthias) Spiegelgraber Sonntag, den 27.7.1919 bezüglich Schlachtvieh bei den Landwirten Nachschau
halten.«

1919
Gemäß Friedensvertrag von Saint Germain-en-Laye vom 10. September 1919 muss die Republik Deutschösterreich in »Republik Österreich« umbenannt werden, ein Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wird verboten. Dagegen protestiert die
Gemeindevertretung von Gramatneusiedl im Mai 1920.

1919
In der Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 12. September 1919 wird zur Behebung der Wohnungsnot im Ort ein Wohnungsamt gegründet, dem
Josef Bilkovsky (1871–1940),
Josef Dedek (1886–1945), Anton Katzenschlager, Karl Pecha (?–1937), Gustav Reitmayer und Josef Schweighart (um 1864–1922) angehören.

1919
In der Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 5. Dezember 1919 wird beschlossen, zur Behebung der Holznot im Ort die Kastanienallee entlang der
Hauptstraße, welche vom Bauerndorf Gramatneusiedl nach Marienthal führt, zu fällen. Weiters wird
beschlossen, dass zur Unterstützung der »Amerikanischen Ausspeiseaktion« Weißmehl bei den Landwirten des Ortes gesammelt werden soll, um damit eine öffentliche Weihnachtsbescherung durchzuführen. Auch sollen die Bauern der »Landwirtschaftlichen Genossenschaft Gramatneusiedl« mehr Milch zwecks Verbesserung der Ernährungslage abliefern.
Weiters wird das Ansuchen von Karl Gartner behandelt, in Gramatneusiedl, Ecke Hauptstraße / Kirschgasse, ein Kino zu eröffnen, welches auch als
Vortragssaal genutzt werden soll. Der Strom würde vom Elektrizitätswerk der Textilfabrik Marienthal bezogen, die Stromgebühren
würden jedoch gemäß einem Vertrag mit der Fabrikdirektion gleichsam als Spende an die Gemeinde gezahlt
werden, zweckgebunden für Schulausgaben, jährlich mindestens 50.000 Kronen. Beides wird Gartner unter der Auflage gewährt, dass dort keine Bälle abgehalten und keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt werden. Im März 1922 ist das Kino jedoch noch immer nicht gebaut, und im Oktober 1922 geht das
Grundstück, auf welchem das Kino erbaut werden soll, in den Besitz von Karl Gartners Ehefrau Anna Gartner, geborene Meindl
(1883–1971),
über, die zwar
1923 ein Kino eröffnet, aber in Neu-Reisenberg. Das Grundstück an der Hauptstraße /
Kirschgasse wird 1928 von der Gemeinde wegen des beabsichtigten Baus einer
Hauptschule zurückgekauft, doch wird Anna Gartner 1928 erneut den Bau eines
Kinos in Gramatneusiedl planen.

1919
1919 wird der Verein »Garten und Kleinwirtschaftssiedlungen in Gramat Neusiedl« gegründet, welcher
1924 in der »Gemeinnützigen Bau- und Wohnungs-Genossenschaft Gartensiedlung, Ortsgruppe Gramat Neusiedl und Umgebung« aufgeht.

1919
Der
1913 gegründete »Deutsche Turnverein Gramatneusiedl-Marienthal« tritt 1919 dem
»Deutschen Turnerbund« als Lokalorganisation bei. Der Verein unter seinem langjährigen Obmann »Fritz« Friedrich Albrecht ist die wichtigste deutschnationale Organisation des Ortes.

© Reinhard Müller
Stand: Juli
2011
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