Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1934
1934
Im Januar 1934 erscheinen drei Rezensionen der
Marienthal-Studie: jene von
Henry Beaumont (1902–1947) (
Text), jene von
Alexander Grünewald (
Text) und jene von
Paul K. Richter (
Text).

1934
Am 9. Februar 1934 findet die letzte ordentliche Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl im Jahr 1934 statt; die
nächste wird erst
am 5. Januar
1935 abgehalten werden. Es wird
das Gemeindebudget für das Jahr 1934 einstimmig beschlossen. Eine Entscheidung über die von Bürgermeister
Josef Bilkovsky (1871–1940) angeregte Reparatur der Uhr der
Kirche Sankt Peter und Paul durch die Turmuhren-Bauanstalt Carl Liebing in Wien wird auf die nächste Gemeinderatssitzung vertagt.
Es wird nun auch die im November
1933 erörterte
Parzellierung von 28 Grundstücken für Mitglieder des »Rassekaninchen-Zuchtvereins
›Vorwärts Marienthal‹« und andere
Kaninchenzüchter erledigt.
Allerdings nur in
der Debatte über die Halbierung des Pachtzinses für die Schrebergärten
angesichts der großen Arbeitslosigkeit kommt es zu einem Beschluss durch
die sozialdemokratische Mehrheit. ( Dokument.)

1934
Am 12. Februar 1934 erheben sich zunächst in Linz
an der Donau
(Oberösterreich), dann auch an vielen anderen Orten Oberösterreichs, Niederösterreichs, der Steiermark, Kärntens, Tirols sowie in Wien Angehörige des »Republikanischen Schutzbundes« und teilweise auch Kommunisten zur
Verteidigung der Demokratie mit Waffengewalt; die so genannten Februarkämpfe
(»Februaraufstand«) dauern bis 15. Februar an. Die Opferbilanz weist offiziell 128 getötete und 409 verwundete Angehörige der Exekutive sowie 137 getötete und 399 verwundete Schutzbündler aus; 21 Sozialdemokraten werden standrechtlich zum Tod
verurteilt und neun von ihnen hingerichtet. Rund 10.000 Sozialdemokraten
und Kommunisten werden verhaftet, viele flüchten ins Exil. Der Geschützlärm der Februarkämpfe in Wien ist so heftig, dass er auch in Gramatneusiedl
zu vernehmen ist. Im Ort selbst herrscht weitgehend Ruhe. Die
Volks- und Hauptschule bleiben ab 13. Februar einige Tage geschlossen, die Faschingsfeste im Ort werden abgesagt. Die Gramatneusiedl-Marienthaler Ortsgruppe des illegalen »Republikanischen Schutzbundes«
ist zwar in Alarmbereitschaft versetzt, doch kommt sie nicht zum
Einsatz. (
Denkbuch Moosbrunn.)

1934
Mit
Verordnung der Bundesregierung vom 12. Februar 1934 wird der
»Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SDAP) jede Betätigung in
Österreich verboten. Die bestehenden Organisationen dieser Partei, also
alle Teil- und Vorfeldorganisationen, sind aufgelöst, die Bildung neuer
solcher Organisationen ist verboten. Dies ist auch das Ende aller
sozialdemokratischen Organisationen Gramatneusiedls und Marienthals.
Allerdings organisieren sich einige Mitglieder im Untergrund und
schließen sich später den in der Illegalität agierenden »Revolutionären
Sozialisten Österreichs« (RSÖ) an, andere treten der schon
1933 verbotenen
»Kommunistischen Partei Österreichs« (KPÖ) bei. Die beiden Zentren der
Marienthaler Sozialdemokratie, das Arbeiterheim Marienthal
und das
Heim der Kinderfreunde,
werden formell geschlossen und der »Vaterländischen
Front« einverleibt, dienen aber in den folgenden Jahren bis
1938 als Heimstätte diverser Hilfsprojekte für Arbeitslose, wie sie
beispielsweise vom
Verein »Jugend
in Arbeit« unter
Beteiligung von
Marie Jahoda (1907–2001)
oder von englischen
Quäkern durchgeführt werden.
Zu den in Gramatneusiedl und Marienthal behördlich aufgelösten Vereinen
gehören beispielsweise der »Arbeiter-Feuerbestattungsverein
›Die Flamme‹«,
der »Arbeiter-Radiobund
Österreichs«,
der »Arbeiter-Turn-
und Sportverein Marienthal«,
die »Gemeinnützige
Bau- und Wohnungs-Genossenschaft Gartensiedlung«,
die »Kinderfreunde«,
die »Mietervereinigung
Österreichs«,
der »Rassekaninchen-Zuchtverein
›Vorwärts Marienthal‹«,
die »Roten
Falken«,
der »Verband
der sozialdemokratischen Gewerbetreibenden und Kaufleute Österreichs«,
der »Verband
der sozialistischen Arbeiterjugend Österreichs«
und der »Volksbildungs-Verein
›Fortschritt‹ Gramat-Neusiedl«.

1934
Mit Verordnung der Bundesregierung vom 16. Februar 1934 werden alle Mandate der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SDAP) für erloschen erklärt. Dies bedeutet auch das erzwungene Ausscheiden aller sozialdemokratischen
Gemeindefunktionäre Gramatneusiedls, darunter der
1929
wiedergewählte Bürgermeister
Josef Bilkovsky
(1871–1940), der Vizebürgermeister Josef
Doleček (1885–1952), der Gemeinderat
Rudolf Theuer (1876–1940), der kurz darauf auch seinen Posten als Gemeindesekretär
verliert, und die Alterspräsidentin
Karoline Taschke, geborene Palme
(1861–1938).
Bilkovsky hat keinen unmittelbaren Nachfolger,
denn
zunächst wird nur
ein provisorischer Gemeindeverwalter eingesetzt.

1934
Am 16. April 1934 findet eine Beratung der Gemeindeverwaltung von Gramatneusiedl statt. Teilnehmer sind nur mehr die christlichsozialen Gemeinderäte Josef Biberhofer (1884–1953), Johann Gröss (1893–1966), Michael Hums (1877–1954), Johann Pribyl (1894–1965)
und Josef Zimmermann (1883–1939) unter Vorsitz des neuen, nunmehr
ernannten Gemeindeverwalters Leo
Isidor Wiltschke (1876–1945), der dem im Februar
1934 abgesetzten
Bürgermeister Josef Bilkovsky
(1871–1940)
folgt. Der Gemeinderat wird erst wieder am 5. Januar
1935 ordnungsgemäß zusammentreten.

1934
Im Zuge des Verbots sozialdemokratischer Organisationen wird 1934 auch der
1923 gegründete »Arbeiter-Turn- und Sportverein Marienthal« behördlich aufgelöst. Lediglich eine Teilorganisation darf weiter bestehen:
der »Arbeiter-Sport-Klub Marienthal«, allerdings nunmehr unter dem Namen »Athletik-Sport-Klub Marienthal«, um jede
gedankliche Verbindung zur Arbeiterbewegung zu vermeiden.

1934
Der 1930 gegründete »Rassekaninchen-Zuchtverein ›Vorwärts Marienthal‹« wird im Zuge des Verbots sozialdemokratischer Organisationen behördlich aufgelöst, doch bildet er die personale Basis für den 1934 gegründeten »Garten-
und Siedlerverein Gramat-Neusiedl und Umgebung«.

1934
Nach Verhandlungen mit dem neuen Gemeindeverwalter Leo
Isidor Wiltschke (1876–1945) erwirbt
Kurt Sonnenschein (1906–195?), Inhaber der Wiener »Firma Franz
Frauenhart u. Kurt Sonnenschein«, 1934 den
Webereikomplex
der
Textilfabrik Marienthal. Seine Fabrik in Unterwaltersdorf (heute
zu Ebreichsdorf, Niederösterreich) war 1933 einem Brand zum Opfer gefallen. Sonnenschein richtet nun in Marienthal eine mechanische Weberei und Appretur (mit Schlichterei, Färberei und Rauerei) ein, wobei alle Maschinen neu
angeschafft werden. Die Fabrik geht noch 1934 als protokollierte Firma »Frommengersche
mechanische Weberei und Schlichterei Kurt Sonnenschein in Mariental« mit Sitz in Wien 1., Eßlinggasse 17, in Betrieb. Zunächst werden 350, seit 1936 allerdings nur mehr zwischen 180 und 190 Webstühle betrieben, also
wenige im Vergleich mit den 808 von 1929. Die Zahl der Beschäftigten beträgt zu Beginn knapp 40, 1935 bereits 70 bis 100 und 1938 etwa 130; lediglich in der ersten Jahreshälfte
1936 muss mit deutlich verminderter Belegschaft gearbeitet werden. Das Werk leiten vor Ort geschäftlich der Finanzleiter Peregrin Treutner
(1877–1961) und technisch der Obermeister Heinrich Jerabek
(1892–1952). Produziert wird vor allem Buntwäsche, und zwar ausschließlich für den österreichischen Markt.
Das Unternehmen wird
1939 »arisiert«, also geraubt.

1934
Mit Stichtag 23. März 1934 findet in Österreich eine Volkszählung statt, die für Gramatneusiedl 2.479 Bewohner in 207 Häusern ausweist. Die seit 1890 üblichen
Angaben zu Marienthal fehlen,
womit die einzige offizielle Kenntnisnahme Marienthals verschwindet.
(
Text.)

1934
Mit Kundmachung der Bundesregierung vom 1. Mai 1934 tritt die »Verfassung 1934« in Kraft. Sie beginnt mit den charakteristischen Worten: »Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen
christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung.«. Damit wird der christlichsoziale Ständestaat Österreich auch formal abgesegnet.

1934
Am 1. Mai 1934 findet eine geheime Protestaktion der illegalen Sozialdemokraten in Marienthal am Teich im
Park
Herrengarten statt.
( Dokument.)
In den folgenden Jahren machen sich die Revolutionären Sozialisten und noch stärker die Kommunisten in Gramatneusiedl und Marienthal fast nur mehr
durch Wandschmierereien und
heimlich ausgestreute Flugzettel bemerkbar.

1934
Im Mai 1934 erscheint eine Rezension der
Marienthal-Studie von
Julius Deussen
(1906–1975). (
Text.)

1934
Im Frühjahr 1934 werden die gesamte Holzkonstruktion des Daches über dem Kirchenschiff der
Kirche Sankt Peter und Paul erneuert und das Dach mit Biberschwanzziegeln eingedeckt.

1934
Die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl«, seit 1929 das führende Wirtschaftsunternehmen des Ortes, errichtet 1934 nahe ihrem
Lagerhaus Gramatneusiedl beim
Bahnhof Gramatneusiedl einen nach einer Seite hin offenen Kunstdüngerschuppen mit einem für Mehllagerung ausgebauten Dachboden (Grundriss 38 mal 7 Meter).

1934
Am 1. Juli 1934 erscheint eine Rezension der
Marienthal-Studie von
Isidore Gompertz Keesing
(1876–1943). (
Text.)

1934
Am 25. Juli 1934 beginnt der so genannte Juliputsch. Nationalsozialisten stürmen das Bundeskanzleramt in Wien, nationalsozialistische Aufstände in der Steiermark, in Kärnten und Oberösterreich folgen. Am 30. Juli endet der Aufstandsversuch mit 153 toten Putschisten (einschließlich der sieben Hingerichteten), 107 Toten auf Regierungsseite und neun toten Unbeteiligten. Das bekannteste Todesopfer ist
Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892–1934), der noch am ersten
Putschtag seinen Verletzungen erliegt. ( Denkbuch Moosbrunn.)

1934
Am 29. Juli 1934 wird in der
Kirche Sankt Peter und Paul ein allgemeiner Trauergottesdienst für den
ermordeten Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892–1934) abgehalten. Jener für die Schüler und
Schülerinnen Gramatneusiedls findet erst im Oktober
1934 statt.

1934
Im August 1934 erscheint eine Rezension der
Marienthal-Studie von
Friedrich Lütge
(1901–1968). (
Text.)

1934
Anlässlich der
Ermordung von Engelbert Dollfuß (1892–1934) gibt es in Gramatneusiedl eine große Spendenaktion für die
»Bundeskanzler
Dollfußglocke«, welche am 13. Oktober 1934 vom Titularbischof
Franz Kamprath (1871–1952) geweiht und im Turm der
Kirche Sankt Peter und Paul aufgezogen wird.
Die 40 Kilo schwere, auch »Letzte Glocke« oder »Zügenglöckerl« genannte »Bundeskanzler Dollfußglocke«, Glockenton H, 40 Zentimeter Durchmesser und 38 Zentimeter hoch, hat ein
Medaillonbild von Engelbert Dollfuß und die Inschriften: »Bundeskanzler-Dollfussglocke / Pro Patria Moriens Voluit Pacem. /
19. J(osef) Pfundner 34 / Wien X.«; die
von Josef Pfundner (1874–1949) gegossene Glocke wird
1942 abgenommen. Gleichzeitig wird auch die neue »Vorletzte Glocke« geweiht, welche die alte »Letzte Glocke« von
1925 ersetzt. Die neue 75 Kilo schwere Glocke, Glockenton Fis, 53 Zentimeter Durchmesser und 53 Zentimeter hoch, trägt die Inschriften: »Durch freiwillige Spenden erworben 1925 U(nd) 1934 / Wenn ihr heute meine Stimme hört / verhärtet eure Herzen nicht / Gegossen von Josef Pfundner, Wien X.«; der Spruch ist aus Psalm 95 der Bibel. Die Gesamtkosten der beiden Glocken betragen 750 Schilling.
(
Denkbuch Moosbrunn.)
Nach der Glockenweihe findet im Theatersaal des
Katholischen Vereins- und
Kinderheims die Uraufführung des vom Gramatneusiedler Fachlehrer
Ferdinand Schwarz verfassten Weihespiels
»Österreich«
statt. (
Denkbuch
Moosbrunn
und
Bild.)

1934
Am Allerseelentag, dem 2. November 1934, wird unter Leitung des Kooperators Anton Kummerer (1908–1990) – wie auch im
folgenden
Jahr – das alte Volksstück »Totentanz« im
Katholischen Vereins- und Kinderheim durch Kinder und Jugendliche aus Gramatneusiedl
aufgeführt. (
Denkbuch Moosbrunn.)

1934
1934 emigriert
Clara Jahoda (1901–1986), Mitarbeiterin an der Marienthal-Studie,
nach Großbritannien, wo sie bis zu ihrem Tod bleibt.

1934
Die wirtschaftliche Lage Gramatneusiedls bleibt auch 1934 weitgehend unverändert. Nicht einmal die Winterhilfe-Aktion 1934/35 kann von der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl bestritten werden und wird
ausschließlich von staatlichen Förderungen getragen, weshalb sie in Gramatneusiedl auch die Bezeichnung »Winterhilfe der Bundesregierung« tragen muss.
(
Denkbuch Moosbrunn.)

1934
Am 20. Dezember 1934 wird der bisherige Gemeindeverwalter Leo
Isidor Wiltschke (1876–1945) in Wien als Bürgermeister von Gramatneusiedl angelobt; er hat dieses Amt bis März
1938 inne.
(Zum Vorgänger siehe
1934.)

1934
Am Nachmittag des 24. Dezember 1934 gibt es, wie seit
1928 üblich, im
Katholischen Vereins-
und Kinderheim eine Weihnachtsbescherung für Kinder, veranstaltet – unter Mithilfe des
»Katholischen Mädchenbunds« und des »Christlichen
Frauenvereins« – vom
»Verein ›Frohe Kindheit‹«,
bei welcher 230 Kinder mit Wäsche, Obst und Süßigkeiten beschenkt werden. Dabei
wird auch das Stück »Ein Gang nach Bethlehem« (Uraufführung 1876) vom
österreichischen Theologen Johann Fahrngruber (1845–1901) aufgeführt. ( Denkbuch Moosbrunn und Denkbuch Moosbrunn.)

© Reinhard Müller
Stand: Juli
2011
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