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Erinnerungen an
Marienthal
Gertrude Wagner im Gespräch mit
Christian Fleck
Wien, am 24. Februar 1984
Auszugsweise und von
Reinhard Müller redigierte Wiedergabe eines Interviews von
Christian Fleck mit Gertrude Wagner.
Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich
(Graz),
Tondokumente,
Signatur T–1.
Die Veröffentlichung erfolgt mit
freundlicher Genehmigung von Christian Fleck, Graz, und dem Archiv für
die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz).
Mit Soziologie begonnen hat der
Paul Lazarsfeld, also mit moderner, empirischer Soziologie.
Ich möchte jetzt über diese sprechen. Paul Lazarsfeld hat, um auch das
zu verstehen, Physik studiert gehabt, war ein ziemlich engagierter,
junger Sozialdemokrat und besonders an Kindererziehung interessiert. Das
hing zusammen. Er hat Physik fertig studiert, wollte Mittelschullehrer
werden und war es auch kurze Zeit. Er hat sich als Sozialist sehr für
moderne Kindererziehung interessiert, was damit zusammengehängt haben
mag, dass er [Otto] Glöckel
ganz gut persönlich gekannt oder kennen gelernt hat. Nur nebenbei:
Seine
Mutter
hat zu dem sozialistischen, sozialdemokratischen Salon gehört. Er ist
also auch durch die Mutter, die eine Individualpsychologin war, zur
Individualpsychologie stark in Beziehung getreten. Daher das Thema
Kindererziehung. Paul Lazarsfeld wollte aber nicht Mittelschullehrer
bleiben und ist dann zum Bühler-Institut
gegangen. Und zwar nicht zu ihm, der ja sicher einer der ersten
Sprachforscher, aber doch nicht empirisch war, während sie ja empirisch
gearbeitet hat. Lazarsfeld ist dadurch – oder schon vorher – durch
verschiedene französische Psychologen mit der ganzen Frage des IQ in
Berührung gekommen. Als Physiker und Mathematiker hat er unter anderem
[Charles Edward] Spearman
für Österreich entdeckt. So komisch es klingen mag, man wusste zu dieser
Zeit in Österreich nicht, wer Spearman war. Nun hatte Lazarsfeld
Spearman übersetzt: Ich weiß nicht, ob das ganze Buch, aber doch alles
Wesentliche. Und Lazarsfeld hat die Bühler in der Richtung beraten, man
müsse empirische Forschung über die Kinderentwicklung machen. Das hat
Charlotte Bühler sehr angenommen. Er hat dann einen Kurs »Einführung in
die Statistik« am Psychologischen Institut gehalten, wahrscheinlich für
uns heute recht primitiv, aber immerhin. Und auf diese Weise kam er zur
empirischen Soziologie. Dadurch hat er auch etwas von den
amerikanischen – ich glaube, die gab es schon – Public-Opinion-Leuten
gewusst; ich weiß nicht, ob’s die schon zu dieser Zeit gab, oder ob die
erst ein bisschen später kamen. Wie auch immer, Lazarsfeld hat sich
gedacht, dass man von so einer Stelle am Psychologischen Institut sehr
gut leben könnte, insbesondere, wo es sehr zweifelhaft war, dass er je
Dozent werden könnte. Für ihn als Juden und Sozialdemokraten war das
doch recht hoffnungslos. Auch wenn ihn die
[Charlotte] Bühler sehr
gefördert hat; sie hat ihn ja gebraucht, meiner Meinung nach. Nun, da
hat Lazarsfeld etwas gegründet, was sich die »Wirtschaftspsychologische
Forschungsstelle« genannt hat. Und zwar wollte er – er musste schon von
Public Opinion Polls in Amerika und von Market Research etwas gehört
haben – Market Research machen. Er wollte also so ein Institut für
Market Research in Wien aufziehen. Damit sollte man also Geld verdienen.
All diese Studenten am Bühler-Institut hatten ja gar kein Geld, und es
gab fast keine Möglichkeit, irgendwelches zu verdienen… war ja eine
schauerliche Zeit. Es war also mit ein Gedanke, wenn er da so ein Market
Research Institut aufzieht, dass diese Studenten dann ein bisschen Geld
verdienen würden. Man musste damals ja alles mit der Hand machen: So
wurden die Bogen mit der Hand ausgezählt. Und der Rechenschieber war
schon eine große Erfindung, dass man damit Prozente berechnen hat
können. Also man musste sogar, ich kann mich erinnern, einen Kurs in
Rechenschieberverwendung machen. Und so hat Lazarsfeld diese
»Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« gegründet und Market
Research gemacht. Ich glaube, man ist dann nicht sehr reich geworden,
aber die Studenten haben ein bisserl verdient. »Stricheln« hat er das
nämlich genannt, wissen Sie. Man hat die Fragebögen mit der Hand
ausgezeichnet, dann hat man sie so aufgeschrieben und hat danach
Prozente berechnet… kommt einem heute alles ein bisserl komisch vor.
Die Verankerung
Paul Lazarsfelds bei den
Psychologen: War die sozusagen zufällig, weil Bühler dort war?
Ja, weil sie, die
Charlotte Bühler, ihn gefördert hat. Er hätte sich sonst
nicht halten können. Denn sie hat ihn sehr gebraucht und hat ihm also
die Möglichkeit gegeben, dort zum Beispiel Kurse über Statistik, über
Spearman und so weiter zu halten. Ah, und er hat ihr ja sehr geholfen
bei ihren empirischen Untersuchungen.
Ja. Aber er selbst hat an Psychologie
doch eigentlich kein Interesse gehabt?
Das kann man nicht sagen. Natürlich waren
all die Leute dieser Zeit, die sozialistischen Individualpsychologen, an
Psychologie sehr interessiert, gar keine Frage.
Hing das mehr mit der
Erziehungsbewegung oder mit der Kulturströmung der Arbeiterbewegung oder
mit politischen Aspekten zusammen?
Wahrscheinlich beides, beides
ineinander greifend, würde ich glauben. Die Individualpsychologie hat
eine große Rolle gespielt. Sie war für einen jungen Sozialisten
brauchbar, der sich für Kindererziehung und Kinderforschung interessiert
hat. Außerdem war
Lazarsfeld sicher kein Psychoanalytiker, ich meine,
von seiner ganzen Persönlichkeit her. Ich glaube, das hat ihm weniger
zugesagt. Aber er war ein großer
[Alfred] Adler-Anhänger, ist auch in Seminare von Adler gegangen und
so weiter. Ah, ja, und natürlich war er gleichzeitig auch politisch
bewegt gewesen, und jugendbeweglerisch beeinflusst. Sehr stark. Und
damit hing dann wahrscheinlich wohl auch das Interesse für
Kindererziehung zusammen. Dieses Jugendbeweglerische und Siegfried
Bernfeld,
würde ich sagen, hatten eine ganz große Rolle gespielt.
Aber war Bernfeld nicht stärker
psychoanalytisch orientiert?
Das war er. Aber gleichzeitig war er
wirklich an Erziehungsfragen interessiert, zumindest in der Zeit als
Führer der Jugend, einer gewissen Jugendbewegung. Also das war auch ein
Faktor. Das alles spielte beim
Paul Lazarsfeld zusammen, würde ich
glauben. Und dann war Lazarsfeld natürlich auch politisch sehr
interessiert. Er war sozusagen der Führer der linken Studenten und
linken Mittelschüler innerhalb der sozialdemokratischen, der
sozialistischen Partei. Da gab es ja Streit, das wissen Sie vielleicht,
so große Fraktionen: die Rechten und die Linken. Und Lazarsfeld war der
Führer der Linken.
Richtig der Führer?
Ja, er war zusammen mit dem
Ludwig Wagner der Führer. Es gab also diese politische Seite,
dann die jugendbeweglerische Seite, die statistische Seite und eine
ganze Reihe anderer Faktoren.
Und spielte
Lazarsfeld politisch noch
eine Rolle, als er bei Bühlers Assistent war?
Nein, er hat dann, glaube ich, aufgehört,
politisch eine Rolle zu spielen, war nicht mehr in Politik involviert,
war eigentlich weggegangen von der Politik. Und Marienthal, Sie erinnern
sich sicher?
Ja, ja.
Die Idee dazu kam, meine ich, von seiner
Soziologie. Er hat natürlich diese Market Research verwendet. Er hat
gemeint, um soziologische Erkenntnisse zu finden, müsse man sich stark
mit der Motivation beschäftigen, mit der Frage: Warum und wie reagieren
Menschen? Und
Lazarsfeld hat auch die eine oder andere soziologische
Untersuchung gemacht. Ich habe auch einmal eine in diesem Rahmen über
Lese- und Hörgewohnheiten beim Radio gemacht. Ich war also da ziemlich eng in der »Wirtschaftspsychologischen
Forschungsstelle« involviert, die habe ich sozusagen administrativ für
ihn, mit ihm gemacht.
Ab wann waren Sie an der
»Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«?
Ganz von Anfang an, vom ersten Tag an. Ich
war vom ersten Tag, von der ersten Idee an dabei. Aber intellektuell war
in der Forschungsstelle
Lazarsfeld dominierend, gar keine Frage.
Natürlich auch, weil er sich eben auch für soziologische oder soziale
Fragen sehr interessiert hat. Und so meinte er, machen wir einmal eine
andere Untersuchung. Und die Idee dazu gab der
Otto Bauer, und zwar gegenüber
Hans Zeisel. Ich glaube, in der
Marienthal-Studie ist ja der
Anhang von Hans Zeisel. Das hat auch dazugehört, dass man diese
englischen sozialgeschichtlichen Untersuchungen gekannt und sich damit
beschäftigt hat. Und der Zeisel war ein guter Freund vom Paul Lazarsfeld.
Aber intellektuell, würde ich glauben, hat er kaum etwas beigetragen. Er
war ein guter Freund und hat immer zugehört, aber ich glaube nicht, dass
er schrecklich viel beigetragen hat, ist mein Eindruck. Er hat dann
später, wie Sie wissen, in der Marienthal-Studie diesen Anhang
geschrieben.
Ja, aber Zeisel war wieder sehr gut mit
dem Otto Bauer. Zeisel war also jemand, der einfach hingegangen ist,
auch zum Oscar Pollak,
auch zur »Arbeiterzeitung«. Und so
hat er irgendwie auch mit dem Otto Bauer geredet, und der hat g’sagt:
»Ja, macht’s doch eine Untersuchung über die Arbeitslosen.« Wie ich
glaube, war das damals auch in der Partei ein Diskussionsthema, nämlich
das Thema »Werden die Long Term Unemployed verwendbar sein im letzten
Kampf?«, wenn Sie so wollen. Man hat damals in dieser Terminologie
geredet, in diesen Vorstellungen gedacht. Und ich glaube, es gab eine
ziemliche Diskussion darüber: Wie werden sich die Arbeitslosen
verhalten? Da die Sozialisten natürlich unter ihren Mitgliedern einen
ganz großen Teil Arbeitsloser hatten, war das sicher ein interessantes
Thema.
Aber diese Verbindung zu
Bauer ist
eigentlich über
Zeisel gelaufen?
Also diese Idee kam über Zeisel. Bitte,
die waren alle auch untereinander bekannt, und da gab es einen Club, wo
auch die Intellektuellen der Partei – ich glaube, alle drei, vier
Wochen – zusammengekommen sind und diskutiert haben. Und ich habe Ihnen
schon gesagt: Es geht da manches durcheinander. Die
Mutter vom Paul
Lazarsfeld hatte einen Salon, und in Wirklichkeit sind es ja die Salons
gewesen, wo all diese Leute hingekommen sind: vom
Max Adler über
Fritz Adler bis hin zum
Alfred Adler.
Also, der
Paul Lazarsfeld war sozusagen
mitten in der Hautevolee. Sein Vater
war ein Rechtsanwalt und hat, glaube ich, auch eine ganze Menge Prozesse
für Sozialisten geführt, obwohl er politisch sonst nicht sehr
hervorgetreten ist.
Sofie Lazarsfeld ist als Individualpsychologin ganz
bekannt geworden. Und Paul war ohne Zweifel stark von seiner Mutter
beeinflusst. Nun, sie hat ein Buch herausgebracht, für die damalige Zeit
auch etwas ganz Neues, das hat geheißen: »Wie die Frau den Mann erlebt«.
Und
Marie Jahoda, welche Rolle hat
sie in dem Kreis gespielt?
Keine! Moment: In der Jugendbewegung eine
ganz große, nämlich insofern eine ganz große, das muss ich sagen, als es
natürlich in jeder Jugendbewegung Gruppen und Grüppchen gab. Sie ist mit
ihrem Bruder Edi Jahoda,
der eigentlich ein Pfadfinder war – das war ein großer Pfadfinder
damals –, in irgendeiner Form zur sozialistischen Mittel- und
Hochschülerbewegung gestoßen, und zwar zur Linken. Und sie war eine
blendende Rednerin. Sie war ja auch beispielsweise in Ferienkolonien
tätig,
war immer eine wirklich begabte Rednerin. Also Referate und
Diskussionen, das konnte sie alles sehr gut. Und da hat sie eigentlich
eine ziemliche Rolle gespielt. Auch in ihrer Schule, nur weiß ich
darüber ein bisserl zu wenig. In der Albertgasse,
da gab es eine Mädchenschule, und aus dieser Mädchenschule kamen viele
sozialistische linke Mittelschüler. Nun, sie ist dann später sehr
schwierig gewesen, in der »Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«.
Das möchte ich eigentlich fast nicht erzählen, das ist fast zu
persönlich. [Das Tonbandgerät wird für einige Zeit abgeschaltet.]
Nach 1934 hat Jahoda –
Paul Lazarsfeld ist
ja nach Amerika gegangen – dann diese
Forschungsstelle noch etwas
weitergeführt. Bevor Lazarsfeld nach Amerika gegangen ist, hat er
irgendeinen reichen Herrn Gold
für die ganze Sache so interessiert, dass der uns alle Schulden gezahlt
hat… und wir hatten eine Menge Schulden, weil natürlich diese Market
Research nicht genug abgeworfen hat. Wir hatten gar kein Geld und
wussten nicht, wie wir unsere »Strichler« zahlen sollten. Und wir
wollten ja unsere »Strichler« zahlen, weil es lauter arme Studenten
waren. So mussten wir uns dann Geld ausleihen. Und dann hat Lazarsfeld
diesen Herrn Gold entdeckt, der wahrscheinlich noch nie im Leben etwas
anderes war als ein Kaufmann. Er hat in der Schweiz gelebt; woher ihn
Lazarsfeld hatte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war der so stolz etwas
mit Intellektuellen zu tun zu haben, dass er die Schulden der
Forschungsstelle gezahlt hat und dafür nur, ich weiß nicht, einen Titel
erhielt? Oder er wollte, dass man ihn fragt und berät. Und wie dann
Lazarsfeld weg war, und die Forschungsstelle halt noch weiter ihre
Existenz geführt hat, so gut sie konnte, da gab’s so einen
kaufmännischen Leiter, der uns noch Aufträge verschafft hat.
Und da ist dann auch die Mitzi Jahoda gekommen, die dann sehr viel
politisch gearbeitet hat, ich meine, im illegalen Apparat wirklich sehr
aktiv war. In die hat sich dann auch der Gold ganz … verliebt … das ist
ein falsches Wort. Aber der Gold hat das großartig gefunden, was für
eine gescheite Frau sich mit ihm beschäftigt und viele Stunden mit ihm
verbringt und ihm nämlich Dinge erzählt, nicht in einem
missverständlichen Dings… Also kurz: Er war ganz begeistert von ihr, und
sie hat dann auch in der Forschungsstelle gearbeitet, aber hat die
Forschungsstelle auch als Deckmantel für ihre illegale Arbeit benützt.
Und eines Tages ist das natürlich aufgeflogen.
Die anderen wussten davon, dass das
sozusagen…?
Nein, nein, das hat sie verheimlicht. Ich
bin damals in dieser letzten Phase der
Forschungsstelle schon in England
gewesen.
Und
Jahoda hat also dem Gold gesagt, sie sei seine Vertreterin und sie
sorge für Ordnung in der Forschungsstelle. Sie hat das sicher sehr
geschickt gemacht, vom Standpunkt der politischen, illegalen Arbeit aus.
Und sie hat es unter anderem so eingerichtet, dass sie den Schlüssel zum
Briefkasten der Forschungsstelle hatte. Und auf diese Art hat nur sie
den Briefkasten mit aller Korrespondenz öffnen können und hat alles, was
also die Forschungsstelle betroffen hat, dort hingegeben, wo es
hingehört hat. Und dann ist alles aufgeflogen, und damit war die
Forschungsstelle aufgelöst. Damals waren natürlich nicht alle ganz
begeistert, weil es sind doch ein paar Leute hineingezogen worden. Der
Theo Neumann
zum Beispiel, der sehr aktiv war, ein Gescheiter, leider ein bisschen
Kranker. Gut, es sind also ein paar Leute von der Polizei zumindest
interniert worden. Und dann hat es natürlich den Studenten sehr leid
getan, weil es waren halt doch immer Sozialistinnen oder Sozialisten,
die aber nicht so sehr, besonders nicht illegal, engagiert waren. Und
wie es aufgeflogen ist, war es natürlich aus. Da waren dann, das habe
ich nachher gehört, denn ich war ja damals in England, da waren dann
halt die Stimmen verschieden: Einerseits war illegale Arbeit sicher sehr
wichtig, gleichzeitig war es sozusagen, hat es den … na gut, sie haben
alle überlebt, keiner ist verhungert [lacht].
Haben Sie in der
Forschungsstelle, in
den Jahren bis 1934, eigentlich immer für den Markt Forschungen gemacht
oder auch andere?
Doch, sehr viele für den Markt.
Und in welcher Intensität?
Na, ununterbrochen. Es gab viele
Untersuchungen, für alle möglichen Dinge: für Meinl, eine
Schuhuntersuchung und eine Kleideruntersuchung und, ach, viele.
Ununterbrochen. Es war eigentlich ein ständiger Betrieb. Wir hatten ein
Büro. Das erste Büro war in der Wallnerstraße, wo jetzt das englische
Konsulat ist. Wir hatten ein großes und ein kleines Zimmer, und da war
immer Betrieb, immer.
Aber es ging also vorrangig um
Auftragssachen?
Vor allem Auftragssachen. Aber
Lazarsfeld
hat eine Menge anderer Sachen gemacht: zum Beispiel
Marienthal. Da gibt
es nämlich eben auch so eine Sache: Die geistige Führung, die Ideen,
würde ich sagen, also einen großen Teil der Ideen hatte Lazarsfeld. Aber
da gab es noch die
Lotte Schenk-Danzinger. Und da ist jetzt was Merkwürdiges
geschehen. In Wirklichkeit war es die Lotte Danzinger, die die ganze
Zeit in Marienthal war, und die nicht nur Interviews und so weiter
ausgeführt hat, sondern die selber auch eine ganze Menge Ideen hatte.
Sie war ja auch später eine enge Mitarbeiterin von der
Charlotte Bühler und war immer eine sehr ideenreiche Person.
Nun, wie ich Ihnen früher geschildert habe [während das Tonbandgerät
abgeschaltet war; Anm.
R.M.], aus diesen ganz persönlichen Gründen habe ich
schon damals dem Paul Lazarsfeld gesagt: »Ich finde das schrecklich
unfair, dass die Danzinger nicht viel mehr in der Marienthal-Studie
herausgekommen ist, weil sie dort wirklich…« Man dankt ihr zwar, aber
sie hatte einen viel größeren Anteil an der Arbeit. Und jetzt sagen mir
junge Leute, es gibt ja jetzt eine zweite Marienthal-Untersuchung.
Ja.
Ich habe ein bisserl was gehört, ich war
nicht schrecklich beeindruckt. Ich kenne aber die Details nicht. Na ja,
die wollten die
Danzinger, also die heißt jetzt Schenk, die wollten sie
also interviewen, und sie sagte, sie kann sich an nichts erinnern.
Ja, ja.
Ich weiß es natürlich nicht genau, aber es
kann zwei Gründe haben: Sie hat dann einen konservativen Mann
geheiratet.
Allerdings hat sie dann trotzdem weiter für die Gemeinde Wien gearbeitet
und ist auch, glaube ich, in ihren ganzen psychologischen Ideen in
Kinderdingen durchaus ein progressiver Mensch geblieben. Oder vielleicht
war sie doch sehr beleidigt, dass man sie nicht mehr in der
Marienthal-Studie berücksichtigt hat. Aber das ist so
meine Theorie.
Und Sie haben dann auch in England als
Sozialwissenschaftlerin gearbeitet?
Ja, ich habe in England eine eigene
Geschichte gemacht. Ich habe zunächst einmal bei »London Press
Exchanges«, das war ein Market Research Institute, eine Stelle gekriegt.
Wie ich hingekommen bin, waren die Methoden des Interviewen bei diesem
englischen Market Research Institute vollkommen neu. Die waren also nur
gewohnt, mit Zahlen zu arbeiten, nicht mit Interviews, also nicht mit
Case Work. Und dafür haben sie mich angestellt, weil das hatte ich ja in
Wien gelernt. Und danach, das hat aber eine Weile gedauert, habe ich
dann einige Zeit, ich glaube eineinhalb Jahre, wenn nicht länger, bei
einer Arbeitslosenstudie mitgemacht, die in England gemacht wurde; die
ist auch publiziert worden.
Und zwar war diese Studie eine Studie, finanziert vom
»Pilgram Trust« –
das war so ein religiöser, größerer Fonds – über Long-Term-Unemployed.
Es gab damals eine Reihe von Versuchen, etwas mit oder für die
Long-Term-Unemployed zu tun, wobei mehr oder weniger Geld hineingesteckt
wurde. Das hat den »Pilgram Trust« interessiert, und der hat mich also
zur Mitarbeit eingeladen, weil ich aus Österreich kam und wegen der
Marienthal-Studie. Wir haben eine Untersuchung an sechs verschiedenen
Orten in England mit Long-Term-Unemployed gemacht: zuerst eine
statistische Analyse und dann Interviews. Es ging vor allem darum, die,
ich würde sagen, Haltung der Arbeitslosen, dieser Long-Term-Unemployed,
festzustellen. Die Haltung zu ihrer Arbeitslosigkeit, wie weit Apathie,
wie weit Aktivität und so weiter. Und wir haben das dann publiziert.

[1] Otto
Glöckel (1874–1935): österreichischer Pädagoge und sozialdemokratischer
Politiker; seit 1892 Volksschullehrer, 1897 als Sozialdemokrat aus dem
Schuldienst entlassen; 1907 bis 1918 Mitglied des Reichsrates, 1918 bis
1934 Abgeordneter zum Österreichischen Nationalrat, 1918 bis 1919
Unterstaatssekretär im Staatsamt des Innern und 1919 bis 1920
Unterstaatssekretär für Unterricht; leitete nach dem Ersten Weltkrieg
die sozialdemokratische Schulreform des »Roten Wien« ein, deren
wichtigster Repräsentant er wurde; 1922 bis 1934 Präsident des Wiener
Stadtschulrates; im Februar 1934 verhaftet, des Amts enthoben und erst
im Oktober 1934 wieder freigelassen. Anmerkung
R.M.
[2] Psychologisches
Institut der Universität Wien, wo 1922 bis 1938
Karl Bühler (1879–1963) und 1923 bis 1938 seine Ehefrau
Charlotte Bühler (1893–1974) wirkten.
Anmerkung
R.M.
[3] Charles
Edward Spearman (1863–1945): britischer Psychologe; Ph. D.; zunächst
in der Armee in Indien; 1907 bis 1911 Lecturer und Vorstand des
Psychological Laboratory und 1911 bis 1931 Professor of Philosophy
of Mind and Logic am University College in London, 1931 emeritiert;
entwickelte 1904 die Faktorenanalyse und schuf eine
Zweifaktorentheorie der Intelligenz mit einem allgemeinen und einem
einer Gruppe untergeordneten, spezifischen Intelligenzfaktor.
Anmerkung
R.M.
[4] Siegfried
Bernfeld (d.i. Selig Bernfeld; 1892–1953): US-amerikanischer
Psychoanalytiker und Sozialpädagoge österreichisch-ukrainischer
Herkunft; Dr. phil.; seit etwa 1917 führender Kopf der radikalen
Wiener Jugendkulturbewegung und der jüdischen Jugendbewegung; 1920
bis 1926 Privatpraxis als Psychoanalytiker in Wien und 1926 bis 1932
in Berlin, 1926 bis 1930 Dozent am Sozialpolitischen Seminar der
Deutschen Hochschule für Politik in Berlin; 1932 Rückkehr nach Wien,
1934 Emigration nach Frankreich, 1937 nach Großbritannien und in die
USA, später Annahme der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft; 1937
bis 1952 Privatpraxis als Psychoanalytiker in San Francisco (California). Anmerkung
R.M.
[5] Vgl.
Gertrud Wagner: Die Programmwünsche der österreichischen
Radiohörer, in: Archiv für die gesamte Psychologie. Organ der
Deutschen Gesellschaft für Psychologie (Frankfurt am Main–Leipzig),
90. Bd.
(1934), S. 157–164. Anmerkung
R.M.
[6] Oscar Pollak (d.i. Oskar Pollak; 1893–1963): österreichischer Journalist
und Schriftsteller; Dr. jur.; seit 1920 Journalist bei
sozialdemokratischen Zeitungen in Wien, 1923 bis 1926 im Sekretariat
der »Sozialistischen Arbeiter-Internationale« in London tätig, seit
1926 Redakteur und seit 1931 Chefredakteur der
»Arbeiterzeitung«
(Wien); seit 1934 im Untergrund in Wien aktiv, Mitbegründer der
»Revolutionären
Sozialisten Österreichs« (RSÖ);
seit 1936 im Sekretariat der
»Sozialistischen
Arbeiter-Internationale«
in Brüssel, seit 1938 in Paris tätig; 1940 Flucht nach London,
Mitbegründer der »Auslandvertretung
der österreichischen Sozialisten«
(AVÖS); 1945
Rückkehr nach Österreich, 1945 bis 1961 wieder Chefredakteur der
»Arbeiterzeitung«.
Anmerkung
R.M.
[7] Diese
drei Adlers waren nicht miteinander verwandt.
Anmerkung
R.M.
[8] D.i.
der Wiener Rechtsanwalt Robert Lazarsfeld (1871–1940).
Anmerkung
R.M.
[9] Vgl.
Sofie Lazarsfeld: Wie die Frau den Mann erlebt. Fremde Bekenntnisse
und eigene Betrachtungen. Leipzig–Wien: Schneider 1931, 331 S.
Anmerkung
R.M.
[10] Marie
Jahoda leitete im Sommer 1926 eine Sommerkolonie, also ein
Ferienlager für Jugendliche, der »Vereinigung sozialistischer
Mittelschüler« im oberösterreichischen Ebensee.
Anmerkung
R.M.
[11] Gemeint
ist das Mädchen-Realgymnasium des Vereins für realgymnasialen
Mädchenunterricht in Wien 8., Albertgasse, welches
Marie Jahoda
1918/19 bis 1925/26 besuchte und wo sie im Juli 1926 maturierte.
Anmerkung
R.M.
[12] Leo
Gold, schweizerischer Kaufmann, von der Gründung im Oktober 1931 bis
Dezember 1934 Leiter der kommerziellen Abteilung der »Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle«.
Anmerkung
R.M.
[13] Gemeint
ist Heinrich Faludi
(1883–?). Anmerkung
R.M.
[14] Gertrude
Wagner emigrierte im Februar 1936 nach London und kehrte erst im Mai
1948 nach Wien zurück. Anmerkung
R.M.
[15] Theodor
Neumann (1908–1970): österreichischer Wirtschaftspsychologe und später
Jurist; Dr. jur.; seit 1935 Mitglied der »Arbeitsgemeinschaft der
Mitarbeiter der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen
Forschungsstelle«, wurde im November 1936 im Zuge der
Hausdurchsuchung in der Forschungsstelle verhaftet, monatelang in
Untersuchungshaft behalten, aber dann wieder auf freien Fuß gesetzt.
Anmerkung
R.M.
[16] Gemeint
ist das Forschungsprojekt des Jubliäumsfonds der Oesterreichischen
Nationalbank Nr. 1521 »Marienthal
1930–1980. Rückblick und sozialpsychologische
Bestandaufnahme in einer ländlichen Industriegemeinde« von
Michael
Freund (geb. 1949),
János Marton
(geb. 1949) und
Birgit Flos (geb.
1944); Projektleiter:
Alexander
Giese (geb. 1921); Unterlagen zu diesem Projekt befinden sich im Archiv für die
Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz,
Signatur 38.
Anmerkung
R.M.
[17] Gemeint
ist der Ingenieur Johann Schenk (1902–1995), den
Lotte Danzinger
1937 heiratete. Anmerkung
R.M.
[18] Vgl.
Men without work. A report made to the Pilgrim Trust. With an
introduction by the Archbishop of York [d.i. William Temple] and a
preface by [Hugh Pattison] Lord Macmillan. Cambridge: Cambridge
University Press 1938, xii, 447 S. Die Untersuchung wurde an sechs
Orten durchgeführt: Deptford, Leicester, im Rhondda Urban District
in South Wales, Crook in County Durham, Liverpool und Blackburn.
Anmerkung
R.M.
[19] Pilgrim
Trust: 1930 von dem US-amerikanischen Philanthropen und
Sozialreformer Edward Stephen Harkness (1874–1940) gestifteter Fonds
in Großbritannien, der Studien über soziale Probleme förderte; der
heute noch existierende Fonds hat seinen Sitz in London.
Anmerkung
R.M.
© Archiv
für die Geschichte der Soziologie in Österreich
Stand: Juni
2010
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