|
Lagerhaus Marienthal der »Landwirtschaftlichen Genossenschaft
Gramatneusiedl«
Gramatneusiedl, bei Hauptstraße 57 und 59, und Reisenberg,
bei Reisenbergerstraße 2 (Teil des Elektrizitätswerks sowie Kistenschuppen mit angebautem Garnmagazin)
Lageplan
Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich wurde am 29. Juni 1938 auch die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl« durch Neuwahl des gesamten Vorstandes
gleichgeschaltet. Bereits im November 1938 erwirkte die Genossenschaftsleitung die Überlassung des von Walter Prade gepachteten, jedoch ungenutzten Spinnerei-Hauptgebäudes der ehemaligen Textilfabrik Marienthal zur Getreidelagerung für die »Reichsstelle für Getreide, Futtermittel und sonstige
landwirtschaftliche Erzeugnisse«. Walter Prade, dessen Pachtvertrag eigentlich noch bis Ende Juni 1940 gegangen wäre, wurde »bewegt«, die Pacht vorzeitig zu kündigen und auf sein Vorverkaufsrecht zu verzichten. Damit konnte die Genossenschaft das gesamte Gelände der ehemaligen Textilfabrik
Marienthal – ausgenommen den von Fritz Ries (1907–1977) »arisierten«
Webereikomplex samt Direktorenwohnhaus Herrenhaus –, das
Elektrizitätswerk und einige andere Baulichkeiten von der »Actien-Gesellschaft
Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal« am 18. April 1939 käuflich erwerben; kurz darauf kaufte sie auch das Arbeiterwohnhaus Neugebäude, das damals
80 Wohnungen beherbergte, samt anschließendem Lagergebäude (Kistenschuppen mit angebautem Garnmagazin) und rund 3.000 Quadratmetern unbebautem Grund.
Da es am
Gelände beim
Bahnhof Gramatneusiedl keine Ausdehnungsmöglichkeit mehr gab, verlegte die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl« zwischen August 1939 und Juli 1940
ihren Hauptbetrieb auf das Areal der ehemaligen Textilfabrik Marienthal. Im einstigen Spinnereikomplex der Textilfabrik Marienthal
richtete sie seit August 1939 ihren neuen Lagerhausbetrieb ein, der aus
mehreren Abteilungen bestand: ein
Kanzleiraum im ehemaligen Alten Kanzleianbau, ein
Kanzleiraum im ehemaligen Neuen
Kanzleianbau,
Kanzleiräume in der ehemaligen Spinnerei-Kanzlei,
Verwaltungsräume im Erdgeschoss der ehemaligen Karderie und Spinnerei,
Getreide- und Mehllager im
ehemaligen Spinnerei-Hauptgebäude, ein
Lagerraum im Dachboden des ehemaligen Nördlichen Stiegenhauses, ein
Lagerraum im Dachboden der ehemaligen Vorspinnerei, Schlichterei, Schärerei und Zettelei, ein
Lagerraum im ersten und zweiten Stock sowie im Dachboden des ehemaligen Südlichen Stiegenhauses, ein
Lagerraum
in der ehemaligen Putzerei und Mischerei, ein
Magazin im ehemaligen Spinnerei-Hauptgebäude, ein
Magazin im Dachboden der ehemaligen Putzerei und Mischerei,
Sackmagazine im ersten und
zweiten Stock der ehemaligen Spinnerei-Aborte, ein
Depotraum im Dachboden der ehemaligen Karderie und Spinnerei, ein
Kesselhaus im ehemaligen
Reißmaschinenlokal sowie ein
Kesselhaus im ehemaligen Kistenschuppen, ein
Getränkelager im ersten und zweiten Stock der ehemaligen Karderie und Spinnerei, eine
Kantine im ehemaligen Feuchtlokal, ein
Gefolgschaftsraum in der ehemaligen Garnlegerei,
ein
Aufenthaltsraum
im Erdgeschoss des ehemaligen Südlichen Stiegenhauses, eine
Badanlage im ehemaligen Feuchtlokal und
Aborte im Erdgeschoss der
ehemaligen Spinnerei-Aborte. Außerdem wurden hier eine Reparaturwerkstätte für landwirtschaftliche Maschinen und Traktoren errichtet, weil sie nun auch die nahe gelegenen Schwesterngenossenschaften Guntramsdorf
(Niederösterreich), Schwadorf (Niederösterreich) und Ebreichsdorf
(Niederösterreich) bediente,
sowie eine Schroterei
eröffnet. Das 1890 errichtete Elektrizitätswerk der Fabrik wurde grundlegend renoviert, ein neuer Generator aufgestellt. Am Bahnhof Gramatneusiedl verblieb nur der Mühlenbetrieb und seit 1940 der Mischfutter-Erzeugungsbetrieb. Mit fortschreitender
Kriegsdauer musste auch die Genossenschaft, die 1942 den vorletzten Fabrikschlot der ehemaligen Textilfabrik Marienthal, den Spinnerei-Dampfschornstein II, umlegen ließ, den Betrieb zunehmend einschränken.
Am 2. April 1945, um etwa 22 Uhr, sprengten Angehörige der Deutschen Wehrmacht die
Fischabrücke, wobei auch das
Kaufhaus mit Fleischhauerei, Selcherei und Alkoholausschank von Heinrich
Treer (1882–1961), Reisenberg 118 (heute Mitterndorferstraße 2) vollständig ausbrannte, die Bäckerei Eduard Palme (1895–1984), Reisenberg 113 (heute Reisenbergerstraße 1), das
Arbeiterwohnhaus Neugebäude, Reisenberg 114 (heute An der Fischa 1), samt Nebengebäuden und das
Elektrizitätswerk Marienthal der
»Landwirtschaftlichen Genossenschaft Gramatneusiedl« schwer beschädigt wurden. Kurz darauf steckten Soldaten der Deutschen Wehrmach das Depot für Flugzeugbestandteile der »Wiener Neustädter Flugzeugwerke« im ehemaligen
Spinnereikomplex sowie den gesamten Lagerhauskomplex Marienthal der »Landwirtschaftlichen Genossenschaft Gramatneusiedl« mittels Benzinfässern in Brand, um die dort lagernden Vorräte, insbesondere die großen Mengen an
Früchten und Lebensmitteln, zu vernichten. Das Feuer breitete sich unkontrolliert aus und zerstörte fast alle Fabrikgebäude der ehemaligen Textilfabrik Marienthal: den ehemaligen Spinnereikomplex vollständig, den
Webereikomplex zum allergrößten Teil. Noch 1946 gab es Schwelfeuer im Lagerhausgebäude des einstigen Spinnerei-Hauptgebäudes.
Bereits im Herbst 1945 begann man mit den Wiederaufbauarbeiten der Marienthaler Anlagen, welche 1951 abgeschlossen wurden. Bis 1949 wurden das
Arbeiterwohnhaus Neugebäude renoviert und auf dem Gelände der einstigen Textilfabrik Marienthal die
durch Beschuss und Brand beschädigten
Werkstätten wiederhergestellt: Kanzleiraum, Magazinräume und Ersatzteillager, Reparaturwerkstätte für Traktoren, Schweißerei, Schmiede, Dreherei, Tischlerei, Eisenlager, Bade- und Belegschaftsraum, Keller, Heizhaus mit Dampfkesselanlage, Landmaschinenabstellraum.
Außerdem konnte im Oktober 1949 das
Elektrizitätswerk Marienthal, in welches nun auch eine Wohnung eingebaut war, im vollen Umfang wieder in Betrieb gehen. Der gesamte Lagerhausbetrieb wurde jedoch vom Gelände der ehemaligen Textilfabrik Marienthal auf die
alte Anlage beim
Bahnhof Gramatneusiedl
verlegt.
1947 erfolgte die Gründung der
»Obst- und Gemüsegenossenschaft Gramatneusiedl«, welche gemeinsam mit der
»Landwirtschaftlichen Genossenschaft Gramatneusiedl« die Übernahme des Frischkrauts durchführte, wofür auf dem Gelände der einstigen Textilfabrik Marienthal, teils auf den Fundamenten des abgebrannten ehemaligen
Spinnerei-Hauptgebäudes, 1949 eine
Frischkrautlagerhalle
(62 X 23 Meter) und 1950 westlich des Arbeiterwohnhauses Neugebäude die 600 Quadratmeter große
Kraut- und Gemüseverarbeitungshalle, Reisenberg 229 (heute An der Fischa 2), errichtet wurden.
1949 wurde der
Lager- und Hauptbetrieb von Marienthal wieder auf das Gelände beim Bahnhof Gramatneusiedl verlegt, doch verblieb der
Werkstättenbetrieb auf dem ehemaligen Fabrikgelände.
Die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl« wurde 1974 übergeführt ins »Raiffeisen-Lagerhaus Wiener Becken, Filiale Gramatneusiedl«.
Weitere Informationen auf dieser Website:
Große Chronik von Gramatneusiedl,
Marienthal und Neu-Reisenberg:
A) Lagerhaus:
;
B) Genossenschaft:

Bilder:
Die Fabrik während des Zweiten Weltkriegs.
Häuserbuch Marienthal 1930:
Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl.
Bibliothek:
● M.R.
[d.i. Michael Reiner]: Geschichte und Entwicklung der
Landwirtschaftlichen Genossenschaft Gramatneusiedl 1901–1941.
[Wien–Gramatneusiedl]: Im Selbstverlage der landwirtschaftlichen
Genossenschaft reg. G.m.b.H. in Gramatneusiedl [1941], 31 S.:

● St.u.B.
[d.s. Leopold Stöckl (1907–1962) und Josef Böhm]: Festschrift anläßlich
des 50jährigen Bestehens der Landwirtschaftlichen Genossenschaft
Gramatneusiedl. [Gramatneusiedl: Landwirtschaftlichen Genossenschaft
Gramatneusiedl 1951], 41 S. Umschlagtitel: 50 Jahre Landwirtschaftliche
Genossenschaft in Gramatneusiedl:

● [Stoitzner,
Josef]: 75 Jahre Raiffeisen-Lagerhaus Gramatneusiedl 1901–1976.
[Gramatneusiedl: Raiffeisen-Lagerhaus Gramatneusiedl 1976], unpaginiert (40 S.):

● Höppel,
Leo (1932–1998) / Maurer, Herbert: 90 Jahre. Lagerhaus Gramatneusiedl
wird 90 Jahre. [Gramatneusiedl: Raiffeisen-Lagerhaus Gramatneusiedl
1991], unpaginiert (4 S.):

Bildarchiv:

© Reinhard Müller Stand:
Juni 2010
 |