Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1850 bis 1859
1850
Gemäß kaiserlicher Entschließung vom 26. Juni 1849 über »die Grundzüge für die Organisation der politischen Verwaltungs-Behörden« werden im
Erzherzogtum Österreich unter der Enns Bezirkshauptmannschaften anstelle der
1753 eingerichteten vier Kreisämter (diese werden allerdings erst
1860 abgeschafft) eingerichtet, welche am
16. Januar 1850 ihre Arbeit aufnehmen. Gramatneusiedl wird der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt
(Niederösterreich) zugeordnet. Bereits
1854 werden die Bezirksämter durch so genannte vermischte Bezirksämter ersetzt.

1850
Die
Textilfabrik Marienthal von Max Todesco (1813–1890) besteht nunmehr aus dem
1847 begonnenen und 1850 fertig gestellten
Spinnereikomplex mit der
Spinnerei und der Karderie, der
Einfahrtanlage mit dem
Portierhaus
(1991
abgerissen) und dem
Technischen Büro (1994 abgerissen) sowie aus dem Stall- und Magazingebäude (1991
abgerissen), in welchem vermutlich auch das
Fabrikkrankenzimmer untergebracht ist, und einem weiteren Magazingebäude, dem späteren Feuerwehrdepot
(1991 abgerissen). Zwischen der
heutigen Hauptstraße und dem östlich davon gelegenen Spinnereikomplex wird um die Einfahrtanlage herum eine Grünanlage angelegt
(später zerteilt in den
Fabrikspark und
den Fabriksgarten). Außerdem betreibt die Textilfabrik Marienthal eine Werkskantine, die 1850 vom Traiteur
Anton Hönig (1815–?) und dessen Ehefrau Elisabeth Hönig (1807–?) geleitet wird.
Ausgenommen die 1991 und 1994 abgerissenen Gebäude wird
der gesamte Komplex am 2. April
1945 von Soldaten der Deutschen Wehrmacht niedergebrannt. (
Plan 1850.)
Die 1850er Jahre sind der Beginn der eigentlichen Industrialisierung Gramatneusiedls und der Anfang einer bis Ende des Ersten Weltkrieges ungebrochenen wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte Marienthals mit großen demographischen, ökonomischen, sozialen und
kulturellen Folgewirkungen.

1850
Gemäß kaiserlicher Verordnung vom 26. Juni 1849 über die »Organisirung
der Gerichte in den
Kronlande Oesterreich unter der Enns« werden Bezirksgerichte eingerichtet, welche am 1. Juli 1850 ihre Arbeit aufnehmen. Gramatneusiedl, das bisher der Herrschaft Schwadorf als Landgericht zugeordnet war, wird nunmehr dem Bezirksgericht Ebreichsdorf zugeordnet, in Kriminalsachen dem Landesgericht Wien.

1850
Am 4. August 1850 wird das von katholischen Arbeitern aus Marienthal für das
Fabrikkrankenzimmer gekaufte Kreuz mit Christusbild in der Kirche Sankt Peter und Paul gesegnet. Wohl anlässlich der Choleraepidemie des
Vorjahres wird im Sommer
1850 ein Krankenzimmer in der Textilfabrik Marienthal in dem neu erbauten Stall- und Magazingebäude
eingerichtet. Als erste Krankenwärterin arbeitet hier die Witwe Katharina Meithner
(1805–?). (
Denkbuch Moosbrunn.)

1850
Die Südseite des Daches der Kirche Sankt Peter und Paul wird mit Schindeln neu gedeckt.

1850
Am 19. Dezember 1850 werden in Gramatneusiedl Soldaten einer Kavallerieeinheit einquartiert.

1851
1851 erscheint die einzige selbstständige
Publikation von Franz Xaver Wurm (1786–1860),
erster Direktor der
Textilfabrik Marienthal: »Bericht über eine Abtheilung von Maschinen der Londoner Industrie-Ausstellung an den
niederösterreichischen Gewerb-Verein«. (
Text.)

1851
Am 26. Juli 1851 werden die ersten Gemeinderatswahlen nach Aufhebung der
Grundherrschaft im
Erzherzogtum Österreich unter der Enns durchgeführt. Die Namen der Bürgermeister der nunmehrigen »Freien Gemeinde Gramatneusiedl« sind allerdings erst seit
1861 – der Bauer
Franz Griesmüller (1810–1893) – bekannt. Dies sind jedoch noch keine allgemeinen Wahlen im Sinne einer modernen Demokratie, da das Wahlrecht mit der Steuerleistung verbunden ist. Aktives und passives Wahlrecht haben nur Haus- und Grundbesitzer ab einem bestimmten Steueraufkommen. Nach der Höhe der
Steuerleistungen werden drei Kurien gebildet, die aus ihrem Kreis Vertreter in den Gemeinderat schicken. Der Höchstbesteuerte kann sogar ohne Wahl Mitglied werden. Gerade in Industriegemeinden wie Gramatneusiedl mit der Textilfabrik Marienthal ist damit die Mehrheit der Bevölkerung bis
1919 von den
Wahlen ausgeschlossen.

1851
Max Todesco (1813–1890) lässt als Ergänzung zum
Fabrikkrankenzimmer 1851 durch die Fabrikdirektion einen »Arbeiter-Unterstützungsfonds Marienthal« einrichten, der Arbeiter und Arbeiterinnen bei lang dauernder Krankheit oder
krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit unterstützen soll. Der Fonds startet mit einem Kapital von 500 Gulden; dieser wird jährlich mit 200 Gulden
aufgestockt. (
Text.)

1851
Mit kaiserlichem Patent vom 31. Dezember 1851 (»Sylvesterpatent«) wird die von den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 geprägte Verfassung vom 4. März 1849 aufgehoben und symbolisch die Zeit des Neoabsolutismus eingeläutet.

1852
Am 7. Oktober 1852 wird in Nachod (Böhmen; Náchod, Tschechische Republik) Isidor Mautner (1852–1930) geboren,
1925 bis 1930 Hauptaktionär der »Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal« und damit gleichsam Besitzer der Textilfabrik Marienthal.

1852
1852 wird in Gramatneusiedl eine
Postexpeditionsstelle anstelle der 1847 errichteten Briefsammelstelle eingerichtet, die seit
1867 auch Geldverkehr durchführt und die
1885 zu einem Post- und Telegrafenamt erweitert wird.

1854
1854 erscheint ein »Alphabetisches Verzeichniß sämmtlicher Orte des Erzherzogthumes Niederösterreich« mit amtlichen Angaben zu Gramatneusiedl und Marienthal. (
Text.)

1854
Durch das am 18. August 1854 zwischen Österreich und dem
hl. Stuhl (Vatikanstaat) geschlossene Konkordat wird fast das gesamte Schulwesen der katholischen Kirche überlassen. Erst
1869 werden deren Kompetenzen im Unterrichtswesen weitgehend eingeschränkt.

1854
Im Zuge der neuerlichen
Verwaltungsreform im
Erzherzogtum Österreich unter der Enns werden gemäß Verordnung der Minister des Innern und der Justiz vom 26. August 1854
anstelle der 1850
eingerichteten Bezirkshauptmannschaften politische, mit Justizangelegenheiten vermischte Bezirksämter eingeführt, die am 30. September 1854 ihre Arbeit aufnehmen. Gramatneusiedl ist dem Bezirksamt Ebreichsdorf
(Niederösterreich) zugeordnet. Diese vermischten Bezirksämter, die in
ihren Kompetenzen
1860
erweitert werden, werden
1869 wieder von Bezirkshauptmannschaften abgelöst.

1854
1854 erzeugt die Textilfabrik Marienthal mit 27.200 Feinspindeln 960.000 Pfund Garne von Nummer 6 bis 40. Damit ist sie nach den Textilfabriken von Pottendorf
(Niederösterreich) und Trumau (Niederösterreich) auf der Produktionsebene die damals drittgrößte im Amtsbezirk Ebreichsdorf
(Niederösterreich).
(
Text.)

1855
1855 lässt Max Todesco (1813–1890) den zweiten großen Komplex der Textilfabrik Marienthal errichten: den Webereikomplex mit Kesselhaus und dem ersten, insgesamt 46 Meter hohen
Schornstein der Fabrik. Dieser Weberei-Schornstein steht heute noch als einziger der insgesamt fünf Fabrikschlote, allerdings zunächst auf 31 und
1996 auf 28 Meter Höhe gekappt. Beinahe
der gesamte Komplex wird am 2. April 1945
von Soldaten der Deutschen Wehrmacht niedergebrannt. (
Plan 1855.)

1855
1855 wird die 1843 in der Kirche Sankt Peter und Paul aufgestellte Orgel des Wiener Orgelbauers Josef Loyp (1801–1877) durch ein Pedal ergänzt. Die Orgel
selbst wird
1867 durch eine neue ersetzt.

1855
Vom 8. August bis 22. September 1855 gibt es
neuerlich eine Choleraepidemie in Gramatneusiedl, der diesmal 24 Menschen zum Opfer fallen. Daraufhin ordnet die Sanitätskommission die Errichtung eines Dorffriedhofes in Gramatneusiedl an, der im Juli 1856 eingeweiht wird.

1855
Seit 24. Dezember 1855 wird die bereits für 1846 geplante Eisenbahnlinie von Wien nach Bruck an der Leitha
(Niederösterreich) bis nach Győr / Raab (Ungarn; heute Győr, Ungarn) weitergeführt.

1856
Anlässlich der Choleraepidemie des Vorjahres ordnet die Sanitätskommission die Errichtung eines Dorffriedhofs in Gramatneusiedl an. Die Gramatneusiedler, die bislang auf dem Dorffriedhof von Moosbrunn
(Niederösterreich) begraben wurden, werden seit dem 14. Juli 1856 in dem
am Vortag eingeweihten eigenen Friedhof im Nordwesten Gramatneusiedls begraben. Am 14. Juli wird auch das Friedhofskreuz aufgestellt und eingeweiht.
Der Friedhof wird erst
1901 erweitert.
(
Denkbuch Moosbrunn.)

1856
Am Abend des 18. August 1856 brennen in Gramatneusiedl 17 Häuser und mehrere Scheunen ab, wobei teilweise auch Vieh in den Flammen umkommt. Dieser größte Brand in der jüngeren Geschichte des Ortes kann erst nach drei Tagen endgültig gelöscht werden. Auf
der Brandstätte des großen Scheunengebäudes des
Schlosses Gramatneusiedl, welches mitsamt den Vorräten niederbrennt, wird 1875 das neue Schulgebäude errichtet
werden. (
Text.)

1857
Mit Stichtag 31. Oktober 1857 wird eine Volkszählung, die erste nach den Grundsätzen moderner Statistik in Österreich, durchgeführt. Für Gramatneusiedl werden 362 Einwohner und zusätzlich etwa 800 Arbeiter in Marienthal ausgewiesen. (
Text.) Die
amtlichen Erhebungen für die Jahre 1857 bis 1910 zeigen, dass sich innerhalb von 50 Jahren die Bevölkerungszahl Marienthals mehr als verdoppelte.

1858
Wegen Geldmangels muss Max Todesco (1813–1890), seit 1845 Eigentümer der Textilfabrik Marienthal, seine Fabrikbefugnis 1858 zurücklegen. Mit Erlass vom 13. März 1858 erhalten seine Brüder
Eduard Todesco (1814–1887) und Moritz
Todesco
(1816–1873) die Erlaubnis, die Textilfabrik Marienthal weiterzuführen, welche nunmehr etwa 1.000 Personen beschäftigt. Die später in den Adelsstand erhobenen Brüder sind typische Vertreter des liberalen Unternehmertums im Österreich des späten 19. Jahrhunderts und ein
Musterbeispiel für die so genannten Wiener Ringstraßenbarone mit prachtvollen Palais an der Wiener Ringstraße und dazugehörigen Salons als Treffpunkt von Kultur und Politik. Zunächst ist die Bautätigkeit bei der Textilfabrik Marienthal gering, sieht man von einem 1860
errichteten Schleusenhaus an der Fischa
ab. Die Brüder Eduard und Moritz Todesco bleiben bis
1864 im alleinigen Besitz der Textilfabrik Marienthal.

1858
Mit kaiserlichem Patent vom 19. September 1857 wird ab 1. November 1858 in Österreich die Österreichische Währung eingeführt. Damit werden der
Konventions-Münzfuß abgeschafft und der Gulden dem norddeutschen Taler angepasst. Gemäß dem nunmehr verbindlichen
Dezimalsystem wird ein Gulden österreichische Währung (fl. ö.W.) in 100 Kreuzer (kr.) eingeteilt.

1859
Mit kaiserlichem Patent vom 20. Dezember 1859 wird in Österreich eine neue, mit 1. Mai 1860 in Kraft tretende Gewerbeordnung erlassen. Zentrale Punkte sind die Auflösung der Handwerksinnungen und die Einführung der Gewerbefreiheit.

© Reinhard Müller
Stand: Juni
2010
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