Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1870 bis 1879
1870
Am 8. Februar 1870 stirbt in Wien Johanna Todesco, geborene Kaulla (1806–1870), kurzzeitig, nämlich
1844 bis 1845, Eigentümerin der
zweiten Textilfabrik Marienthal.

1870
Mit dem Landesgesetz vom 21. Februar 1870 übernehmen die Ortsgemeinden das Vermögen der Pfarrarmeninstitute. Seither ist allein die Freie Gemeinde Gramatneusiedl für die Armenfürsorge im Ort zuständig.

1870
Während die Fabrik und Arbeiterkolonie Marienthal einen außerordentlichen Aufschwung nimmt, bleibt das Bauerndorf Gramatneusiedl verarmt. Charakteristisch ist der Zustand der Kirche Sankt Peter
und Paul, über den der neu bestellte Pfarrer
Johann Scheller (1840–1900)
klagt. Dieser lässt im April und Mai 1870 das Innere der Kirche
renovieren und kauft eine Kirchenfahne. (
Denkbuch Moosbrunn.)

1870
Mit dem Gesetz vom 7. April 1870 »in Betreff der Verabredungen von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern zur Erzwingung von Arbeitsbedingungen, und von Gewerbsleuten zur Erhöhung des Preises einer Waare zum Nachtheile des Publikums« werden grundsätzlich das
Recht auf Streik und Aussperrung festgeschrieben.

1870
1870 lässt die
Textilfabrik Marienthal im Park
Herrengarten das
Südliche Gewächshaus errichten (um
1956 abgerissen).

1871
Eine Vergrößerung des Bahnhofes Gramatneusiedl wird notwendig, als am 1. September 1871 die unmittelbar östlich des Bahnhofgebäudes abzweigende Linie über Wampersdorf
(heute zu Pottendorf, Niederösterreich) nach Wiener Neustadt (Niederösterreich), welche im August
1869 konzessioniert wurde, als »Wien–Pottendorf–Wiener-Neustädter Bahn« eröffnet wird.

1871
Am 27. Oktober 1871 wird in Gramatneusiedl Josef Bilkovsky (1871–1940) geboren. Der gelernte Weber ist
1919 bis
1934 Bürgermeister von Gramatneusiedl und unterstützt in dieser Funktion
1931/32 das
Projektteam der
Marienthal-Studie außerordentlich.

1871
1871 lässt die
Textilfabrik Marienthal die Garnbleiche und die
Trockenhänge mit angebautem Benzinlokal errichten.

1871
Da nach dem Reichs-Volksschulgesetz vom 14. Mai
1869 der Messnerdienst für unvereinbar mit der Würde eines Lehrers erklärt wurde, muss der Gramatneusiedler Lehrer
Andreas Veigel nach einer anonymen Anzeige die Stelle als Kirchendiener zurücklegen,
und die Kirche Sankt Peter und Paul erhält erstmals einen Messner, der nicht zugleich auch Lehrer ist. Pfarrer
Johann Scheller (1840–1900) verweigert der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl, die für diesen Dienst mitzahlen muss, das Bestellungsrecht und
setzt 1871 den Inwohner Johann Kegler, Gramatneusiedl 33 (ab 1961: Oberortsstraße 22), als Messner ein. In diesem Jahr wird in der Kirche über dem Weihwasserkessel auch eine Opferbüchse eingemauert.

1871
Mitglieder der Arbeiterbühne »Dilettanten-Verein Marienthal«
betrieben schon seit deren Gründung 1866 gleichsam als Sektion den
»Männer-Gesang-Verein Marienthal«, der nun 1871 unter dem Namen »Männer-Gesang-Verein ›Geselligkeit‹ Marienthal« gemäß Vereinsgesetz
als eigenständiger Verein gegründet wird. Die
vereinseigene Geschichtsschreibung gibt spätestens seit
1899 (
Dokument 1) als Gründungsjahr
1866 an, doch belegt ein Bericht aus dem Jahr 1869, dass es damals in Marienthal – im Gegensatz zur Schwesternfabrik in
Trumau – zwar einen Theater-, jedoch noch keinen Gesangsverein gab; allerdings wird in einem anderen
Bericht aus demselben Jahr bereits von einem Gesangsverein auch in
Marienthal berichtet. Der Chor ist der
älteste noch bestehende Verein Marienthals, allerdings seit 1980 (Statutenänderung
1982) als gemischter Chor unter dem Namen
»Gesangverein ›Geselligkeit‹ Mariental-Gramatneusiedl«. Der Chor rekrutiert sich zunächst aus der gesellschaftlichen
Elite Marienthals und später auch des Bauerndorfs Gramatneusiedl. Erst
1903 erhält er ein proletarisches Gegenstück: den Arbeiterchor »Sänger-Riege
Marienthal«.

1873
Anlässlich der Weltausstellung in Wien (1. Mai bis 2. November 1873) erscheint 1873 ein Buch mit einem kurzen biografischen Artikel
von Carl Güntner (1827–?) über Franz Xaver Wurm (1786–1860),
Direktor der
ersten Textilfabrik Marienthal. (
Text.)

1873
Pfarrer Johann Scheller (1840–1900) trifft mit der Direktion der
Textilfabrik Marienthal eine mündliche Vereinbarung über eine Bezahlung durch die
Fabrik bei Begräbnissen von Angehörigen der Textilfabrik Marienthal. Dieses Abkommen wird erst
1879
in einem schriftlichen Vertrag festgehalten.

1873
Mit dem Reichs-Gesetz vom 2. April 1873 tritt eine neue Reichsrats-Wahlordnung in Kraft: Die Abgeordneten werden nun nicht länger von den Landtagen, sondern direkt gewählt. Das Zensuswahlrecht, also die von der Steuerleistung abhängige Wahlberechtigung, bleibt weiterhin
aufrecht, so dass nur etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung wählen dürfen.

1873
Am 29. April 1873 wird das
Industriegleis der Textilfabrik Marienthal
eröffnet. Dieses zweigt von der 1871 eröffneten Linie über Wampersdorf
(heute zu Pottendorf, Niederösterreich) nach Wiener Neustadt
(Niederösterreich) ab. Es verläuft parallel nördlich der Reisenbergerstraße über eine eigene Brücke über die Fischa, danach parallel zur
Gramatneusiedler Hauptstraße, von wo es auf das Fabrikgelände weitergeführt wird. Dort gibt es drei Gleisabzweigungen, eine davon mit einer Drehscheibe.
1921
wird die Gleisanlage mit einem neuen Schleppgleis versehen.

1873
Der große Börsenkrach vom 9. Mai 1873 (»Schwarzer Freitag«) hat auf den Aufschwung der Textilfabrik Marienthal keinen unmittelbaren Einfluss, doch hinterlässt er im Bauerndorf Gramatneusiedl seine Spuren: Dort vergiftet sich
1874 ein durch den Börsenkrach ruinierter
Wiener Kaufmann.

1873
Am 17. Juli 1873 stirbt in Wien Moritz Ritter von Todesco (1816–1873), 1858 bis
1864 Miteigentümer der dritten Textilfabrik Marienthal, die er dann in eine Aktiengesellschaft umwandelte.

1873
Der erste Generaldirektor der
Textilfabriken Marienthal und Trumau (Niederösterreich) Gustav
Haggenmacher fällt am 5. September 1873 der Cholera zum Opfer. Ihm folgt nach mehreren Interimslösungen
1887 der Handlungsreisende Leopold Specht (1869–1927) in dieser Funktion
nach.

1874
Der Bauer Franz Griesmüller (1810–1893) lässt auf eigene Kosten die Kirche Sankt Peter und Paul außen renovieren.

1874
1874 gibt es bei der Textilfabrik Marienthal erneut eine rege Bautätigkeit. Es werden die
Anlage zur
Gaserzeugung mit ihrem kleinen
Schornstein (1961 abgerissen) und das Kohlenlager errichtet.
Weiters wird die heutige
Arbeitersiedlung Marienthal um einen neuen Bau erweitert: das Arbeiterwohnhaus Nusshof, Gramatneusiedl 60 (ab 1961: Hauptstraße 60).
Schließlich erwirbt die Textilfabrik Marienthal in diesem Jahr
die um
1800 als Mühle errichtete
Kiebitzmühle,
Gramatneusiedl 45 (ab 1961: Kiebitzmühle 1), und wird zu einem Wohnhaus für ledige Arbeiter umgebaut.

1874
Am 5. Dezember 1874 vergiftet sich ein durch den Börsenkrach vom 9. Mai 1873 ruinierter Wiener Kaufmann im
Gemeindewirtshaus
Nr. 1 im
Schloss Gramatneusiedl. (
Denkbuch Moosbrunn.)

1874
Am 16. Dezember 1874 wird in Gramatneusiedl das im September errichtete Kreuz an der Bahnstraße eingeweiht.

1875
Im August 1875 beginnt der Abriss der Brandruine der im August 1856 niedergebrannten
Scheune des
Schlosses Gramatneusiedl, kurz darauf der Neubau des
1876 eröffneten neuen
Schulgebäudes.

1875
Am 30. Oktober 1875 wählt der Marienthaler Fabrikarbeiter Eduard Schwindenwein (1857–1875) bei der Schwarzen Brücke, eine Eisenbahnbrücke Richtung Götzendorf an der Leitha
(Niederösterreich) nordöstlich des Zusammenflusses von
Feilbach und
Fischa, den Freitod; er sei »ein Opfer des Romanlesens«. (
Denkbuch Moosbrunn.)

1875
Südlich der Fischa, unmittelbar an das Gelände der Textilfabrik Marienthal anschließend, jedoch bereits auf Boden der Nachbargemeinde
Reisenberg, entsteht zwischen 1875 und 1913 entlang der Reisenbergerstraße und der Mitterndorferstraße eine Siedlung, welche bei Schließung der Textilfabrik Marienthal 1930 insgesamt 17 Häuser umfasst: die Siedlung
Neu-Reisenberg, zu der auch das
1846 bis 1850 errichtete fabrikeigene Arbeiterwohnhaus Neugebäude gehört. Lediglich zwei Bauten sind
älteren Datums:
Reisenberg 113 (heute Reisenbergerstraße 1) aus dem Jahr 1848 und
Reisenberg 117 (heute
Mitterndorferstraße 6) aus dem Jahr 1864. Der Erstreckung Marienthals über zwei Ortsgemeinden wird nur in den amtlichen Volkszählungen von 1890 bis 1923
Rechnung getragen (siehe Statistik). Die Zugehörigkeit Neu-Reisenbergs zu Marienthal belegt beispielsweise auch die Tafel auf dem Haus
Reisenberg 166 (heute Reisenbergerstraße 3). Die Häuser dieser Siedlung sind überwiegend im Besitz von Kleingewerbetreibenden, weshalb
Neu-Reisenberg gleichsam das Marienthaler Einkaufszentrum ist: Bäcker, Fleischhauer, Lebensmittel-, Kleider-, Porzellan- und Glaswarenhändler, Frisöre, Schneider und anderes mehr. Vor allem befinden sich in Neu-Reisenberg auch die – abgesehen vom Fabrikgasthaus – einzigen Gasthäuser
Marienthals. An erster Stelle ist hier das für die Marienthaler Arbeiterschaft wichtige Gasthaus Sam, Reisenberg 131 (heute
Mitterndorferstraße 4) zu nennen, welches Vereinslokal fast aller Marienthaler Arbeitervereine und seit 1906 auch der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SDAP) ist, ehe 1926 das Arbeiterheim Marienthal – zumindest teilweise – diese Funktion übernimmt. In dem 1877 erbauten Haus sind seit
1886 Angehörige der Familie Sam als Gastwirte tätig. Der Familienbetrieb wird – abgesehen vom ehemaligen Fabrikgasthaus,
welches noch in Betrieb ist – als
letztes Marienthaler Gasthaus Ende März
2006 geschlossen. Es besitzt einen beliebten Gastgarten, gleich wie das zweite, 1885 erbaute Marienthaler Gasthaus, »Zum Südpol«, Reisenberg 136 (heute Reisenbergerstraße 11), wo es im Hof auch eine Kegelbahn und seit
1923 ein Kino gibt. Schließlich sei noch auf das 1778 erbaute, seit 1893 von Franz Hollub (1824–1916) und nach dessen Tod von seiner Witwe Josefa Hollub (1854–1941) geführte Fabrikkaufhaus in Reisenberg 118
(heute Mitterndorferstraße 2) hingewiesen. Hier richtet
Heinrich Treer (1882–1961) im Jahr 1918 ein Kaufhaus (Spezerei und Kolonialwaren) mit Fleischhauerei und Selcherei sowie eine Alkoholausschank ein. ( »Zum
Treer gegangen«.)

1876
Gemäß dem Reichs-Gesetz vom 23. Juli 1871 wird mit 1. Januar 1876 in Österreich als alleingültiges das metrische Maß eingeführt. Damit einher gehen auch die neuen, verbindlichen Flächenmaße und Gewichte.

1876
Am 30. Juli 1876 wird die seit 1875 gebaute neue Schule, Gramatneusiedl 62 (ab 1961: Wiener
Straße 2a), eingeweiht. Die Textilfabrik Marienthal übernimmt zwei Drittel der Baukosten von insgesamt 16.000 Gulden
und gewährt der Freien Gemeinde Gramatneusiedl für ihr Drittel einen
günstigen Kredit. Der Neubau wurde notwendig, weil die Herabsetzung der
Schülerhöchstzahl mehr Klassenzimmer erforderte. Zunächst dreiklassig, wird die Schule seit 1883 vierklassig (zuzüglich einer neu hinzugekommenen Industrielehrerin) geführt, seit 1893
sechsklassig. 1904 wird es notwendig, Parallelklassen einzurichten, wobei bis 1913 fünf der sechs Klassen nach dem neuen Modus geführt werden.

1876
Die Direktion der Textilfabrik Marienthal veranlasst 1876 die Gründung einer eigenen »Freiwilligen
Fabriksfeuerwehr Marienthal« mit eigenem Feuerwehrdepot. Als Kommandanten fungieren die jeweiligen Generaldirektoren der
Fabrik. Mitglieder dieser
Institution bilden bald darauf die »Marienthaler Feuerwehrkapelle«. Nach Stilllegung der Fabrik 1930 wird die Betriebsfeuerwehr
1932 aufgelöst, brauchbare Löschgerätschaften werden der
1894 gegründeten »Freiwilligen Feuerwehr Gramatneusiedl« einverleibt,
ebenso die einstige Feuerwehrkapelle.

1876
Der Bauer Karl Brauneder (1838–?) wird 1876 zum Bürgermeister von Gramatneusiedl gewählt und bekleidet dieses Amt bis
1885.
(Zum Vorgänger siehe
1864.)

1876
1876 wird der
1867 gegründete »Turnverein der Arbeiter Marienthals« aufgelöst.

1877
Am 12. Februar 1877 wird in Wien Stephan Mautner (1877–1944) geboren, als Stellvertreter seines Vaters Isidor Mautner (1852–1930)
1925 bis 1930 Mitaktionär der »Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und
Marienthal« und damit gleichsam Mitbesitzer der Textilfabrik Marienthal.

1877
Am 17. September 1877 kommt es in Gramatneusiedl zu einer neuerlichen Brandkatastrophe. In einer Scheune bricht Feuer aus, greift rasch um sich und äschert insgesamt 14 Scheuern, neun Wirtschaftsgebäude und das Wohnhaus Gramatneusiedl 29 (ab 1961:
Oberortsstraße 30) ein.

1878
1878 lässt die Textilfabrik Marienthal das
Baumwollmagazin II
errichten. (
Plan 1878.)

1879
Aufbauend auf einer mündlichen Vereinbarung aus dem Jahr 1873 schließen Pfarrer Johann Scheller (1840–1900) und die Direktion der
Textilfabrik Marienthal am 2. April 1879 einen Vertrag, wonach die Pfarre bei Begräbnissen von Angehörigen der
Textilfabrik Marienthal von der Fabrik für Einsegnung, Messnerdienst, Geläute und Transport eine Entschädigung erhält: für Kinder bis zum Alter von zehn Jahren drei, für Erwachsene vier Gulden je Begräbnis.
(
Denkbuch Moosbrunn.)

© Reinhard Müller
Stand: Dezember
2013
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